Ein polytopisches Oratorium von Marc Sinan
21 Jahre nach dem Mord an Enver Şimşek, dem ersten in der Mordserie des NSU-Terrors, zehn Jahre nach dem Öffentlichwerden des sogenannten NSU, sind die Hintergründe der Taten und die rechtsradikalen Verstrickungen der Gruppe bis tief in staatliche Strukturen hinein längst nicht aufgearbeitet. Im Gegenteil verfestigen sich Rechtsradikalismus, Verachtung und Fremdenfeindlichkeit zunehmend tiefer in der Gesellschaft.
Marc Sinans polytopisches Oratorium MANİFEST(O) (türkisch für „Manifest“) vereint sieben, an Schlüsselorten der Taten des sogenannten NSU aufgeführte Einzelperformances in einem abendfüllenden Werk. Aus einzelnen Stimmen entsteht MANİFEST(O) als grenzüberschreitendes, Geschichte und Orte verbindendes Oratorium mit Orchester, Chören und Solist:innen. Negative Energien der Verbrechen werden aufgenommen, Grundfragen von Vergeltung und Neuanfang diskutiert und in einer ethischen Utopie verarbeitet. Das Oratorium MANİFEST(O) und sieben Einzelperformances, DIE ABWESENHEIT GOTTES / TANRI’NIN YOKLUĞU – BLINDE LIEBE / KÖR AŞK – DIE ANWESENHEIT DES MENSCHEN / İNSANIN VARLIĞI – DER ALTAR DER RACHE / İNTİKAM SUNAĞI – GLÜHENDER HASS / YANAN NEFRET – GLEISSENDES LICHT / PARLAYAN NUR – DER CHOR DER VERGEBUNG / AFFETME KOROSU, finden dabei stets gleichzeitig an verschiedenen Orten statt und sind digital miteinander verbunden.
Ritual des Verlusts
Der größte Schmerz ist der Verlust. Es ist der tiefste Schmerz, der unheilbar ist. Wer hat das getan, warum ist niemand eingeschritten, warum hat niemand, weder Mensch noch ein Gott das verhindert? Wie können wir mit Verlusten umgehen?
Die St. Martinskirche in Kassel ist der Ereignisort einer immersiven Performance, in der das Publikum mit dem Klang einer Kirchorgel interagiert. Die Orgel ist dabei vollständig über Sensoren gesteuert und reagiert auf Zuhörer:innen, die sich in den Kirchenraum begeben. Die Intensität der Klänge ist abhängig von den Bewegungen der Menschen im Raum. Ist die Kirche leer, tobt die Musik, je voller der Raum wird, umso zarter und fragiler werden die Klänge, bis hin zu vollständiger Stille, in der nur die Stimme eines Kindes hörbar wird. Fragen nach Gemeinschaft und Verlust sind die Themen dieser Performance.
Immersive Performance in Kassel
In Kooperation mit den Kasseler Musiktagen
Ritual der Trauer
Manchmal wollen Menschen lieber mit Blindheit geschlagen sein, als an die Zeiten und Orte des Schmerzes erinnert zu werden. Doch wie die Trauer und die Wahrheiten über untilgbare Taten bleiben, so haben auch die Hoffnung und der Glaube an eine gemeinsame Zukunft Bestand. Es ist noch nicht vorbei und eine gemeinsame Welt möglich, in der der Mensch viel sein kann, selbst wenn er wenig hat oder wenig scheint.
Die Sängerin und Bağlama-Spielerin Derya Yıldırım entwickelt gemeinsam mit der Percussionistin Greta Eacott und dem Sounddesigner Tobias Levin ein dichtes musikalisches Programm jenseits traditioneller Zuschreibungen. Es entstehen Klänge zwischen Elektronik und archaischer anatolischer Musik, die vom Glauben an wie über die Schwierigkeiten des Zusammenlebens erzählen. Diese einzigartige Performance ist in Hamburg auf Kampnagel und im Chemnitzer Weltecho zu erleben.
Konzerte in Chemnitz und Hamburg
Bağlama – Derya Yıldırım / Percussion – Greta Eacott / Sounddesign – Tobias Levin
Ritual der Rebellion
Was tun Menschen, wenn sie eine Krise zu bewältigen haben, sie wahrgenommen, erinnert werden wollen, wenn sie etwas zu sagen haben und nicht gehört werden, ihnen die Stimme fehlt? Viele bleiben stumm, andere haben jedoch die Kraft, sich auch friedlich hörbar zu machen. In Spanien oder der Türkei hat das nächtliche Klappern mit Topfdeckeln eine lange Tradition in der Protestbewegung. Hier geben sich Menschen laut und vernehmlich eine Stimme, nach dem Motto: „Wer trommelt, schlägt keine Köpfe ein.“
Kinder und Jugendliche aus Rostock und Umgebung entwickeln gemeinsam mit dem Schlagzeuger und Percussionisten Daniel Eichholz, dem Musiker Christian Kuzio und Tänzer:innen des Rostocker Volkstheaters eine kollektive Performance als gewaltfreies und doch physisches Symbol eines kollektiven Widerstands. Instrumente werden aus Schrott gebaut, aus verschiedenen Utensilien entstehen Klangkörper und ein heterogenes rhythmisches Material wird gemeinsam entwickelt. Gruppen von Kindern und Jugendlichen bewegen sich in einem lauten Sternmarsch durch die Stadt, um ihrer Anwesenheit und ihren Träumen/ Hoffnungen? einen Klang und eine Stimme zu geben. Auf ihren Wegen werden die Anwohner:innen zur Interaktion aufgefordert, ihre Fenster zu öffnen und mitzuklappern. Auf einem zentralen Platz findet das Ritual der Rebellion ihren Höhepunkt und die Instrumente werden zu einem „Altar der Anwesenheit“ aufgetürmt.
Percussionperformance in Rostock
Mit Daniel Eichholz, Christian Kuzio und Rostocker Jugendlichen
Ritual der Reinigung
Die Unterdrückten, die Angegriffenen, die Missachteten, die Getöteten, die Nicht-Freien, es gibt sie überall. Sie sind verfolgt worden, hatten Angst, sind unsichtbar gemacht, sind bedrängt worden, sind hier und überall geboren, sind viele. Alle, die Bedrohten, die Verfolgten, die Abgedrängten, die Marginalisierten, die Ausgeschlossenen haben ein Recht auf Schutz, auf Gehör und auf Widerstand. Und das ohne Unterschied.
Wie verarbeiten Menschen und Gesellschaften im 21. Jahrhundert die Folgen von Verbrechen des Menschen am Menschen? Wie reinigt sich eine Gesellschaft von untilgbarer Schuld und zurückbleibenden negativen Energien?
Mit diesen Fragen setzt sich eine Gruppe von Künstler:innen in acht deutschen Städten, die vom Terror des sogenannten NSU besonders betroffen waren und sind, auseinander. Worte, Gesänge, Musik, Energie sind die Materialien einer rituellen Performance. Und an sieben Orten wird diese Performance sich weiterentwickeln, sich live und auf immer neue Weise mit dem auseinandersetzen, was Künstler:innen und unsere Gesellschaft noch immer zutiefst bewegt: Hass, Verachtung, Rassismus, Nationalismus, Ignoranz.
Performances in Chemnitz, Eisenach, Jena, Hamburg, Heilbronn, München, Nürnberg und Plauen
Mit Mirko Borscht, Jelena Kuljić, Mateja Meded und Volkan T error
Ritual der Vergeltung
Wie kann eine Tat, wie der Mord an Mitbürger:innen, gesühnt werden? Es gibt Schulden, die sind nicht abzahlbar. Aber vielleicht ist gerade das Erinnern die einzig wirkungsvolle Sühne und Vergeltung.
Der blinde Klarinettist Oğuz Büyükberber bewegt sich in Heilbronn, Zwickau und München zu den Tat- und Gedenkorten der Morde des sogenannten NSU. Hier improvisiert er jeweils an einem oder mehreren Orten einen musikalischen Dialog mit den Toten. Genährt von Trauma, Wut und Hass sind diese Konzerte, die Büyükberber spielt, schmerzvolle, hoch energetische, wütende Zwiegespräche mit der Vergangenheit und einem gegenwärtigen Publikum. Begleitet wird der Klarinettist bei all seinen Konzerten von der Stimme eines toten Mädchens, das selbst zum Opfer rassistischen Terrors wurde.
Konzerte in Heilbronn, Nürnberg und Zwickau
Klarinette – Oğuz Büyükberber
Ritual des Erinnerns
Viele Opfer von Terrorakten und deren Angehörige warten weltweit wie auch in Deutschland noch immer auf ein klares Zeichen, ein abschließendes Urteil, dass endlich Gerechtigkeit geschieht oder zumindest „versucht“ wird. Genozide, Morde, von Staaten, Gruppen oder Einzelpersonen begangen – unsere Geschichte ist voll von Opfern und voll von Menschen, die auf Gerechtigkeit warten. Wann werden diese Menschen sagen dürfen, dass Gerechtigkeit geschehen ist? Wann wird es wieder hell, wann scheint wieder gleißendes Licht?
Der Pianist Emre Elivar setzt mit seiner Performance ein Zeichen und erinnert mit und durch die Komposition von Marc Sinan zugleich an die Schönheit wie die dunklen Abgründe menschlichen Handelns. In sechs Städten spielt Elivar auf einem Konzertflügel in Konzertsälen, an Bahnhöfen und auf öffentlichen Plätzen. Musikalisch ist das Programm ein Treffen der Gegensätze, eine wahnwitzige Überschreibung von Beethovens 5. Klavierkonzert, gerahmt von Kompositionen Haydns, Beethovens und Mendelssohns.
Konzerte in Dortmund, Heilbronn, Jena und Nürnberg
Piano – Emre Elivar
Ritual der Vergebung
Was entzweit uns? Was verwirrt unsere Wege? Was macht uns zu Feinden?
Ist, vor dem Hintergrund unverzeihlicher Taten gegen Menschen, überhaupt so etwas wie Vergebung möglich? Es heißt, gutmachen kann man niemals, wo Menschen wirklich handeln. Sind Vergebung und Erlösung dennoch möglich? Vielleicht bleibt nur eine Chance. Das Leiden zu verstehen und anzuerkennen und den Opfern und ihren Angehörigen Gehör zu verschaffen. Aber auch die schreckliche Wahrheit der Taten und der Täter:innen niemals verloren gehen zu lassen. Vielleicht können Menschen und Gesellschaften dann beginnen, sich gegenseitig zu vergeben.
Die Kölner Keupstraße wird gefüllt sein mit zahlreichen Chören, die zum Innehalten auffordern. Von der Dortmunder Gedenkstätte ziehen Sänger:innen zum Dietrich Keuning-Haus. In Nürnberg versammeln sich die Chorist:innen vor dem Polizeipräsidium in der Innenstadt. Die Menschen singen und sprechen in ihren individuellen Traditionen einen gemeinsamen Text, die „Flüsternde Vergebung“. Auskomponierte Teile sind so angelegt, dass die Heterogenität der Stimmen und musikalischen Fähigkeiten jeden Abend eine andere Qualität und Form dieses außergewöhnlichen Zusammenseins und Gebets möglich machen. Eine Kamera bewegt sich durch die Menschenmenge und überträgt eine subjektive und veränderliche Rezeption der Performance an die jeweiligen Aufführungsorte des Oratoriums.
Es geht darum, eine gemeinsame Stimme zu finden und zu erleben. Gemeinschaft zu spüren, ist ein Rausch, ein Gefühl wie bei den Gesängen in einem Fußballstadion – nur, dass die Gegner nicht andere Menschen oder gegnerische Teams sind, sondern das uns Trennende, die Gräben und Ängste zwischen uns und in uns selbst. Das Publikum vor Ort wie auch die Besucher:innen der parallel aufgeführten Vorstellung des Oratoriums MANİFEST(O) werden eingeladen, selbst Teil dieses Chores zu werden. Eine eigene Projektwebsite mit Live-Streams kann per Smartphone angewählt werden und ermöglicht dadurch einen besonderen Grad der Zugänglichkeit und Partizipation. Egal, wo man sich auch befindet, jede:r hat die Möglichkeit des Mitsingens.
Seid nicht bang
der Tag ist schön
Helle scheint in jeder Tiefe. Ich
wollten hier nicht sterben verzeiht
dass ich hier liege. Der erste Schmerz ist
der Verlust. Der zweite Schmerz der Hass. Der
dritte Schmerz Vergebung. Noch immer warte ich auf
die Gerechtigkeit. Ich kann verstehen doch nicht verzeihn.
Vergebung ist nicht vergessen. Fragt heute. Schweigt nicht.
Bleibt ihr stumm, wird es auch euch treffen. Helft uns tretet für
uns ein. Vergesst uns nicht. Sagt meinen Namen. Und ich habe
wieder einen Namen. Erinnert mich erinnert euch und zusammen
verbrennen wir die Angst.
Mit Chören aus Dortmund, Köln und Nürnberg
Aus sieben Städten werden an drei Abenden Teile der dort stattfindenden Performances sicht- und hörbar nach Jena und Nürnberg übertragen und mischen sich präzise koordiniert in das abendfüllende Oratorium. Die Jenaer Philharmonie mit Orchester, Knabenchor und Jenaer Madrigalkreis sowie die Staatsphilharmonie Nürnberg bilden den unmittelbaren künstlerischen Rahmen und zugleich das musikalische Zentrum in Jena bzw. Nürnberg.
Geführt und befragt von der Stimme und den Gedanken eines jungen Mädchens, entsteht in einer Zeit, in der Werte korrodieren und relativiert werden, ein Manifest der grenzüberschreitenden Anwesenheit des Menschen, der Erinnerung und Hoffnung. MANİFEST(O) ist ein Oratorium, das Orte, Haltungen, Kulturen, Chöre und Solist:innen, Orchester und das Publikum gleichermaßen verbinden kann.
Aufführungen in Jena und Nürnberg
Komposition und künstlerische Leitung – Marc Sinan / Libretto und Dramaturgie – Holger Kuhla / Musikalische Leitung – Simon Gaudenz, Björn Huestege / Solist:innen – Iva Bittová, Andreas Fischer, Katia Guedes, Johanna Krödel, Johanna Vargas / Jenaer Philharmonie, Staatsphilharmonie Nürnberg, AuditivVokal Dresden und Knabenchor der Jenaer Philharmonie
MANİFEST(O) wird produziert durch die YMUSIC GmbH, Berlin.
Marc Sinan ist Komponist und Gitarrist. In seiner Arbeit erprobt er neue Wege der Kollaboration zwischen Künstlern im transkulturellen, transmedialen und musiktheatralen Kontext. Dabei arbeitet er meist in Personalunion als Komponist, künstlerischer Leiter, Gitarrist und Produzent mit seinem eigenen Ensemble, der Marc Sinan Company, und wechselnden internationalen Gästen und Partnern. Aufnahmen seiner Werke werden bei ECM Records veröffentlicht. Er lebt und arbeitet in Berlin. Seine sozialkritischen, konzeptionellen und meist abendfüllenden Werke werden international aufgeführt und waren zu Gast bei Festivals wie dem Schleswig Holstein Musikfestival, Istanbul Festival, Bunt Festival Belgrad, MaerzMusik sowie an Häusern wie dem Maxim Gorki Theater, Festspielhaus Hellerau und dem Wiener Konzerthaus. Sinan kollaborierte mit dem Royal Philharmonic Orchestra, den Dresdner Sinfonikern, dem No Borders Orchestra, Sonar Quartett, den Neuen Vocalsolisten Stuttgart, Iva Bittová, Oğuz Büyükberber, Jörg Widmann, Kayhan Kalhor und zahllosen weiteren Ensembles, Musiker:innen und Künstler:innen aus Europa, Asien, Afrika und Nordamerika.