Abschreckend wirkt nicht nur die Strafverfolgung, sondern auch die Aufklärung
Plädoyer aus dem NSU-Prozess vom 28. November 2017
Hohes Gericht,
liebe anwesende Angehörige der Opfer der Neonazis.
Ich heiße Muhammet Ayazgün. Seit über 20 Jahren ist die Keupstraße einer meiner Lebensmittelpunkte. Ich habe dort gearbeitet und heute betreibe ich dort ein Café. Am 9. Juni 2004 hielt ich mich bei dem Nagelbombenanschlag der Neonazis gegenüber dem Friseurladen meines Bekannten auf. Ich hatte Glück – ein Nagel schoss knapp an meinem Kopf vorbei in ein Regenrohr; durch die Wirkung der Bombe bin ich zu Boden gefallen und mein Trommelfell ist geplatzt.
Mit dem Anschlag war der Angriff aber nicht zu Ende. Auch in der Hauptverhandlung dieses Verfahrens haben Nebenkläger und deren Anwälte immer wieder auf die Leiden und Übergriffe auf sie – die Opfer, die hinterbliebenen Familienmitglieder – hingewiesen.
Wie konnte es dazu kommen, dass Neonazis über so viele Jahre so viele Menschen, die sie als „Ausländer“ bezeichnen, umbringen konnten bzw. Opfer von Mordversuchen wurden, wie konnte es dazu kommen, dass über Jahre unzählige Verfassungsschützer im Umkreis der Neonazis wirkten, wie konnte es dazu kommen, dass die Opfer von der deutschen Polizei als Täter, als Kriminelle behandelt, diskriminiert und in ihrer Ehre verletzt wurden? Die Anwälte der Nebenklage, der Opfer des NSU, haben hierzu viele Anträge gestellt – die meisten wurden abgelehnt. Einige Anwälte von Opfern der Keupstraße – auch mein Anwalt – hatten Beweisanträge zum erkennbaren Charakter des Nagelbombenanschlages auf die Keupstraße gestellt. Auch dieser Antrag wurde abgelehnt. Warum wird staatliche Verantwortung nicht übernommen, warum gibt es hier immer noch ein Tabu? Dieses Gericht muss die rassistischen Morde als solche bewerten, dabei muss es auch das Verhalten der Polizei und des Verfassungsschutzes seinem Urteil zugrunde legen.
Dazu gehören die Missbilligungen, die Übergriffe, die wir und die Opfer der Neonazis durch die staatlichen Verfolgungsbehörden und in deren Folge durch die Medien erleiden mussten. Ich will mich hier auf die Menschen der Keupstraße beschränken: In der Beweisaufnahme haben wir alle hören können, was die Geschädigten des Anschlages auf die Menschen in der Keupstraße erlebt haben, wie sie von der Polizei als Schuldige behandelt und unter Druck gesetzt wurden. Mir persönlich haben mehrere Bekannte in den Tagen nach dem Anschlag der Neonazis berichtet, wie sie von der Polizei behandelt wurden, dass sie als Verdächtige und nicht als Opfer angesehen wurden, dass man Druck auf sie ausgeübt hat, dass man ihnen nicht glaubte. Ich erinnere mich auch, dass ich am Tage nach dem Anschlag hörte, der Innenminister habe gesagt, der Anschlag habe keinen terroristischen Hintergrund. Wenn der Innenminister einen terroristischen Anschlag auf uns – die wir als Ausländer gelten –, auf die Keupstraße als Zentrum von türkischen und kurdischen Geschäften, als nicht gegeben ausgibt, sondern auf uns – wie er nannte, ein „kriminelles Milieu“ – verweist, war klar, was wir zu erwarten hatten. Später habe ich mir diese schnelle Schuldzuweisung so erklärt, dass er Deutschland schützen wollte. Rechtsradikale oder eine private Sache, das ist ein großer Unterschied. Wenn ich damals auf die Straße gegangen wäre und gesagt hätte: „Der ist ein Lügner“, hätten die Leute über mich gesagt: „Ach, der ist bekloppt. Der hat doch keine Ahnung. Der phantasiert.“ Ein Mann, der so eine Position wie Schily hat, hätte so etwas nicht behaupten dürfen.
Der Druck auf uns in der Keupstraße durch die Polizei – die, wie wir heute wissen, auch zahlreiche V-Leute zu uns schickte, um uns konspirativ auszuforschen – hielt jahrelang an. Ich bin von der Polizei nie als Geschädigter befragt worden – warum, ist mir bis heute nicht klar. Ich habe mich aber auch selber nie an die Polizei gewandt – ich hatte einfach Angst vor der Polizei, ich hatte Angst, von dieser als Täter behandelt zu werden. Die Atmosphäre unter uns Menschen aus der Keupstraße war so, dass ich trotz meiner Verletzung – dem geplatzten Trommelfell – nicht wagte, zu einem Arzt zu gehen, da ich dachte, dieser würde mich dann der Polizei melden. Erst nach dem 4. November 2011 war mir klar, dass die Polizei uns – mich – jetzt nicht mehr für einen Terroristen hält, und ich ging zu einem HNO-Arzt. Dafür war es – natürlich – zu spät. Ich schildere dies, um deutlich zu machen, wie wir Opfer die Zeit nach dem gegen uns gerichteten Terroranschlag erlebt haben.
Mir wurde berichtet, was die Bundesanwaltschaft plädiert hat. Da wurde oft von Anschlägen auf „den Staat“ berichtet, dass der NSU den deutschen Staat bekämpft hätte, dann wurde wiederholt erklärt, staatliche Stellen hätten mit dem NSU nichts zutun gehabt. Davon, was wir Opfer – wir Migranten, mit welchem Pass auch immer – auch die Eingebürgerten unter uns werden ja offenbar auch von der Bundesanwaltschaft weiter als Ausländer bezeichnet – nach den Anschlägen der Neonazis durch die staatlichen Organe, durch die Polizei, erleiden mussten, davon wird immer noch nicht gesprochen. Da beschränkt sich die Bundesanwaltschaft auf eine Beschimpfung unserer Nebenklagevertreter:innen.
Rassismus stellt eine Krankheit dar. Ich bin Kurde aus der Türkei. Ich weiß, wie es ist, wenn ein Mensch nur nach seiner Volkszugehörigkeit behandelt wird. Denn ich weiß, wie es ist, wenn Kurden im Irak, in Syrien ermordet werden. Alle Menschen müssen gleichbehandelt werden, als Individuum mit gleichen Rechten und demselben Recht auf Achtung und Menschenwürde.
Wie hoch Zschäpe und ihre Mitkämpfer hier verurteilt werden, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, die Hintergründe aufzuklären – abschreckend wirkt nicht nur die Strafverfolgung, sondern auch die Aufklärung, das heißt die Verhinderung weiterer Taten der Neonazis. Ich glaube, die Ärzte dieser Krankheit sind wir hier. Die Ärzte müssen diese Krankheit behandeln, damit sie sich nicht weiter ausbreitet.
Ich fühle mich in Deutschland nicht fremd. Ich fühle mich wie ein Deutscher aus der Türkei. Ich bedanke mich bei dem Hohen Gericht.
Gerechtigkeit, Gerechtigkeit, Gerechtigkeit!
aus: Antonia von der Behrens (Hrsg.), Kein Schlussswort. Nazi-Terror. Sicherheitsbehörden. Unterstützernetzwerk, VSA: Verlag, Hamburg 2018
Ehefrau von Theodoros Boulgarides
Plädoyer aus dem NSU-Prozess vom 8. Februar 2018
Ich bin Yvonne Boulgarides. Theo Boulgarides, mein Ehemann und Vater meiner Töchter, Mandy und Michalina, wurde am 15.6.2005 auf brutale Art und Weise hingerichtet.
Vor einigen Jahren hielt ich in München eine Rede, die ich mit einem Zitat von Albert Einstein beendete: „Man soll nie aufhören zu fragen.“ All die Opfer haben nicht aufgehört zu fragen, jedoch ist uns die angeblich „lückenlose Aufklärung“ so viele Antworten schuldig geblieben.
Bis heute möchte ich wissen, warum das Ansehen meiner Familie in der Öffentlichkeit derart demontiert wurde. Hat man uns in die Täterrolle gedrängt, um unsere unangenehmen Fragen zum Verstummen zu bringen? Oder befanden sich die Behörden tatsächlich auf einem, für mich nicht nachvollziehbaren, Irrweg? Wie kam es, dass so viele an den Ermittlungen beteiligte Zeugen bei ihren Vernehmungen von einem epidemieartigen Gedächtnisverlust befallen wurden? Wieso erhielten V-Männer und Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden nicht proaktiv eine umfassende Aussagegenehmigung? Wieso wurden und werden diese Leute, die ganz offensichtlich bei der Ausübung ihrer Pflicht kläglich versagt haben, geschützt? Warum wurde dieser Schutz nicht den Opfern und ihren Familien zuteil? Wie viele Opfer wären uns erspart geblieben, wenn die beauftragten Staatsorgane ihre Arbeit ehrenhaft und pflichtbewusst erledigt hätten? Warum wurden trotz laufender Ermittlungen immer wieder Tausende von Aktenseiten geschreddert? Warum wurden zahlreiche V-Personen und mutmaßliche NSU-Unterstützer bis heute nicht angemessen vernommen? Wo sind all die, die durch ihr fahrlässiges oder vorsätzliches Handeln diese Verbrechen ermöglicht haben? Warum haben sie keine Konsequenzen zu befürchten? Warum werden sie sogar, wie Lothar Lingen, der vorsätzlich Akten vernichtet hat, aktiv vor Strafverfolgung geschützt?
Es wäre die Aufgabe der entsprechenden Staatsorgane gewesen, der Wahrheitsfindung zu dienen. Leider muss ich an dieser Stelle von einem kompletten Organversagen sprechen. All die zum Teil absurden Auf- und Erklärungsversuche haben uns mit noch mehr Fragen, Misstrauen und Ungewissheit zurückgelassen.
Ich werde oft gefragt, wie ich diesem Prozess gegenüberstehe. Er ähnelt für mich einem oberflächlichen Hausputz. Um der Gründlichkeit Genüge zu tun, hätte man die Teppiche aufheben müssen, unter welche bereits so vieles gekehrt wurde. Dieses Gericht hat sicherlich versucht, im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten, zur Aufklärung beizutragen. Das auch nach Prozessende unter diesen Teppichen noch Schmutz liegen wird, ist den Traditionslinien einer paranoiden, menschenverachtenden Ideologie geschuldet. Einer Ideologie, die in diesem Land lediglich Tod und Leid hervorgebracht hat. Die Chance auf einen Bruch mit diesen Traditionslinien haben die Verantwortlichen durch die Verhinderung einer umfassenden Aufklärung verpasst.
Es ist mir an dieser Stelle ein Anliegen, auf einen außergewöhnlichen Menschen zu sprechen zu kommen. Er ist uns in den letzten Jahren nicht nur ein guter Freund, sondern auch Teil unserer Familie geworden. Auf eine für uns bemerkenswert selbstlose Weise hat er nicht aufgehört Recherchen voranzutreiben und uns als seiner Familie und Mandanten viele Fragen zu beantworten und uns mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Ich weiß, dass seine unermüdliche investigative Arbeit maßgeblich zur Aufklärung vieler Ungereimtheiten beigetragen hat.
Als ich im Frühjahr 2011 unseren Anwalt, Herrn Narin, das erste Mal traf, berichtete er mir schon damals von einem offensichtlichen Zusammenhang der damals so genannten „Döner-Morde“ und dem Kölner Nagelbomben-Attentat. Mir erschloss sich damals noch nicht, warum diverse Sonderkommissionen, mit all ihren Möglichkeiten, nicht in der Lage waren, ebenfalls diese Verbindungen herzustellen.
Auch all seine weiteren Ermittlungsergebnisse bezüglich der Taten waren derart schlüssig für mich, dass ich ihm das Mandat erteilte. Es wundert mich heute nicht mehr, dass ich unmittelbar nach der Verpflichtung von Herrn Narin Besuch von einem Ermittler der „Soko Theo“ bekam. Dieser beschrieb mir Herrn Narin als äußerst dubiosen Menschen und riet mir, die Mandatserteilung zu revidieren. Sein Besuch hat genau das Gegenteil bei mir bewirkt.
Die zahlreichen Rechercheergebnisse unseres Anwalts haben sich im Laufe der Zeit alle bewahrheitet und nicht nur bei uns zur Aufklärung beigetragen.
Während der Jahre wurden gegen Yavuz Narin einige Ermittlungsverfahren eingeleitet, unter anderem wegen Geheimnisverrats. Dazu möchte ich Folgendes sagen: Geheimnisse, die dazu dienen, Verbrechen und desaströses Fehlverhalten zu vertuschen, sind nicht schützenswert!
An dieser Stelle möchten wir Angelika Lex gedenken, die nach schwerer Krankheit verstorben ist und leider nur einen Teil der Strecke mit uns zurücklegen konnte. Auch dir, Angelika, und deiner Familie gilt unser Dank für das Engagement.
Abschließend möchte ich noch auf einen der Angeklagten zu sprechen kommen. Uns ist bewusst, dass die folgenden Ausführungen bei einigen auf Unverständnis stoßen werden. Dennoch haben wir uns dazu entschieden, diesen Weg zu gehen. Über die vermittelnden Rechtsanwälte kam ein persönliches Gespräch mit Herrn Carsten Schultze zustande. Dieses Zusammenkommen war einer der schwierigsten, aber auch einer der emotionalsten Momente in unserem Leben. Herrn Schultze haben wir in diesem Gespräch als einen Menschen erlebt, der sein Mitwirken zutiefst bereute und dem das eigene Gewissen bereits den größten Teil seiner Strafe auferlegt hat. Jemanden, der über ein Unrechtsbewusstsein verfügt und der zur Reue fähig ist. Eigenschaften, die wir bei den anderen Angeklagten in all der Zeit bei besten Willen nicht ausmachen konnten.
Wir wünschen uns, dass ihm sein Strafmaß die Möglichkeit gibt, sein Leben in positivere Bahnen zu lenken.
Ich weiß, dass mein Mann gern gesehen hätte, wie seine kleinen Töchter zu Frauen herangewachsen sind. Wie gern er seine Mädchen zum Traualtar geführt hätte oder wie stolz er gewesen wäre, als seine Enkeltochter geboren wurde. Ich weiß auch, wie viele der hier beteiligten Nebenkläger geliebte Menschen verloren haben oder anderes Leid erfahren mussten. Aber ich weiß auch, dass wir die Zeit nicht zurückdrehen können. Eines aber können wir tun: Nicht aufhören zu fragen.
Wir alle sollten auch nach diesem Prozess nicht aufhören, nach Antworten zu suchen. Vielleicht werden wir nie alles erfahren, aber wir werden die unzähligen Puzzleteile sammeln und zusammenfügen, bis das Bild der Wahrheit vor unseren Augen zu erkennen ist. Dann müssen auch alle anderen hinsehen.
Ehefrau von Habil Kılıç
Was gebt Ihr uns, um eine Zukunft aufbauen zu können?
Eigentlich will ich nicht mehr darüber erzählen, was damals passiert ist. Es tut zu weh. Jahrelang habe ich versucht, mit dem Geschehenen und meinen Gefühlen abzuschließen. Ich will nicht, dass alles wieder hochkommt. Deshalb möchte ich auch nicht, dass hier mein voller Name genannt wird. Ich will nicht ständig auf das Schreckliche angesprochen werden, das passiert ist. Ich möchte endlich auch eine Zukunft sehen, und wenn ich jeden Tag aufs Neue an die Vergangenheit denken muss, kann ich keine Zukunft mehr erkennen. Es war einfach brutal, was mit meinem Mann und meiner Familie passiert ist, ja es war unmenschlich. Ich habe alles verloren: meinen Mann Habil, den Vater meiner Tochter, meine finanzielle Lebensgrundlage, meine Gesundheit. Das Allerschlimmste aber vielleicht: Ich habe auch das sichere Gespür für das verloren, was ich tun soll. Ich weiß nicht mehr, wo ich hingehöre.
Ich bin in Ankara geboren. Mit zehn Jahren bin ich meiner Mutter nach Deutschland gefolgt, die hier studiert und als Chemikerin bei Siemens gearbeitet hat. Damals fühlte ich mich, als wäre ich in einer anderen Welt gelandet. Aber mittlerweile habe ich vierzig Jahre meines Lebens in München verbracht. Ich bin hier zur Schule gegangen, habe hier meine Ausbildung als Einzelhandelskauffrau gemacht. Jahrelang habe ich in einem bekannten Trachtenmodegeschäft gearbeitet. Ich habe es dort bis zur Filialleiterin gebracht. Das war schon etwas Besonderes; wahrscheinlich war ich die einzige Türkin in Bayern, die Dirndl und Sepplhosen verkauft hat.
Ich mag die bayerischen Leute. Sie sind vielleicht ein bissl hart, aber auch fröhlich und herzlich. Wenn man mich heute fragt, was ich bin, dann sage ich: Ich bin eine Mischung aus Türkin, Deutscher und Bayerin. Seit 1999 habe ich die deutsche Staatangehörigkeit. Aber nach allem, was passiert, frage ich mich manchmal: Was habe ich in diesem Land zu suchen? Was mache ich in Deutschland, wo man meinem Mann Habil und meiner Familie so Schreckliches angetan hat?
Ich habe Habil in den Ferien in der Türkei kennengelernt. Er war charmant, sah gut aus, ich mochte seine Freundlichkeit und wie er sich mir gegenüber benahm. Lange haben wir uns nur Briefe geschrieben, und auch nachdem wir verheiratet waren, mussten wir einige Zeit warten, bis er nach Deutschland kommen durfte. Ich war in München zu Hause, aber ich glaube, mein Mann hat sich hier nicht wohl gefühlt. In der Türkei hatte er ein eigenes Geschäft – hier konnte er die Sprache nicht.
Er hat auf dem Großmarkt gearbeitet, obwohl er eigentlich Besseres gekonnt hätte. Aber dort hatte er wenigstens seinen Freundeskreis, mit dem er reden und nachmittags Kaffee trinken konnte. Doch oft hat er zu mir gesagt: „Wir müssen zurück in die Türkei. Ich bin hier eine Null. Nichts. Hier fehlt etwas. Es gibt für mich keinen gescheiten Arbeitsplatz. Ich komme hier nicht weiter.“ Aber ich wollte damals hier bleiben. Ich wollte nicht einen Teil meines Lebens abschneiden. Und ohne meine Tochter und mich wollte er auch nicht gehen. Das hat ihm das Leben gekostet – genau in dem Frischwarenladen, den ich wenige Monate vorher übernommen hatte, weil ich hoffte, dass ich dort am besten für unsere Familie da sein könnte. Unsere Wohnung war ja gleich über dem Geschäft. So konnte ich meine Tochter nachmittags aus dem Hort abholen und für sie kochen. Und mein Mann half im Laden mit, wenn er mit seiner Arbeit im Großmarkt fertig war.
Als am 29. August 2001 seine Mörder in den Laden kamen und ein Blutbad anrichteten, waren meine Tochter und ich gerade in der Türkei. Wir machten Urlaub mit Habils Familie, er war in München geblieben, weil er seinen Chef in der Großmarkthalle nicht alleine lassen wollte. Wir wollten gerade für einige Tage nach Bodrum ans Meer fahren, als mein Bruder einen Anruf bekam und zu mir sagte: „Dein Mann ist sehr krank.“ Ich habe dann eine Freundin in München angerufen. „Du musst sofort nach Deutschland kommen“, hat sie durchs Telefon gerufen. Aber nicht gesagt, warum.
Als ich in München aus dem Flugzeug stieg, holten meine Mutter und eine Bekannte mich ab. Sie sagten: „Du musst jetzt sehr ruhig bleiben. Habil ist gestorben.“ „Wie, gestorben? Er war doch ganz gesund!“ Und dann hat man mir gesagt, dass mein Mann erschossen worden ist. Ich musste vom Flughafen aus direkt aufs Polizeirevier zum Verhör fahren. Man hat mir einen Kaffee angeboten und dann fingen die Befragungen an. Aber ich wusste doch gar nichts zu erzählen! Ich war doch mit meiner Tochter in der Türkei gewesen.
In den folgenden Tagen hat die Polizei meine Wohnung auf den Kopf gestellt. Geschirr ging kaputt, die Wände waren mit Pulver beschmiert, um Fingerabdrücke zu suchen, alles war durcheinander. Meine Mutter und ich wurden immer wieder vernommen. Man hat meine Fingerabdrücke abgenommen und mir schließlich ein Schild umgehängt mit einer Nummer drauf und ein Foto gemacht. Es erinnerte mich an die Bilder von den Juden im Dritten Reich. Sie haben mich behandelt wie eine Mörderin. Irgendjemand glaubte offenbar, meine Mutter und ich hätten jemanden beauftragt, meinen Mann zu erschießen.
Später kam dann der Verdacht auf, mein Mann sei in Drogengeschäfte verwickelt gewesen.
Ich selbst hatte nur Fragezeichen im Kopf. Warum er? Warum wir? Was haben wir getan? Wir hatten doch mit niemandem Probleme – nicht mit den Deutschen, nicht mit den Türken. Nicht mit den Nachbarn. Ich habe dann überlegt: Wahrscheinlich war da irgendein Streit in der Großmarkthalle unter Freunden? Oder vielleicht wollte jemand unser Geschäft haben? Es gab einfach keine Antwort. Auf die Idee, dass die Tat etwas mit Ausländerfeindlichkeit zu tun haben könnte, bin ich nie gekommen. Nie! Ich hatte doch immer mit Deutschen zusammengearbeitet, meine Chefs waren immer Deutsche, meine Arbeitskollegen, sie waren doch alle immer nett. Es hatte nie Schwierigkeiten gegeben. Erst nach dem Tod meines Mannes fingen die Probleme an.
Die erste Zeit war so brutal, dass ich sie kaum beschreiben mag. Ich musste das Blut meines Mannes vom Boden des Geschäftes und von den Wänden abwischen. Der Laden war lange von der Polizei versiegelt, aber ich musste weiter Miete zahlen. Doch nach allem, was passiert war, konnte ich das Geschäft einfach nicht weiterführen. Ich war auch nicht in der Lage, in meiner Wohnung über dem Laden zu bleiben. Ich hatte einfach Angst, dass auch mir etwas passieren würde oder meiner Tochter. Es war so unheimlich. Dann geschahen auch so merkwürdige Dinge, mein Auto wurde demoliert und die Reifen durchstochen. Es war alles gruselig und keiner hatte eine Antwort auf das „Warum“. Ich bin dann zuerst zu meiner Mutter gezogen und dann in einen ganz anderen Stadtteil – bloß weit weg!
Damals sind wir mit unserem Problem völlig allein geblieben. Keiner ist gekommen, um uns zu helfen. Im Gegenteil. Sie haben uns schikaniert. Die Schuldirektorin meiner Tochter sagte eines Tages, mein Kind müsse sich eine andere Schule suchen. „Wieso?“ „Ja, wir dachten, Ihre Tochter würde nicht aus der Türkei zurückkommen.“ Es sei für sie und die Schule zu gefährlich, denn die Mörder meines Mannes seien ja noch nicht gefasst. Erst als die Polizei der Direktorin erklärte, dass das Quatsch sei, durfte meine Tochter bleiben.
Ich war in der ersten Zeit nicht in der Lage zu arbeiten, und als ich schließlich eine Stelle in einem Textilgeschäft fand, wurde ich von meinen deutschen Kolleginnen rausgemobbt. Irgendjemand hatte herausgefunden, dass ich die Frau des ermordeten Habil K. bin. Dann haben sie mir Zeitungsartikel auf den Tisch gelegt. Schließlich wurde ich entlassen. Finanziell war das das Ende. Wir hatten alle unsere Ersparnisse in meinen Frischwarenladen gesteckt. Irgendwann musste ich selbst die Grundstücke verkaufen, die ich noch in der Türkei besaß. Schließlich bin ich bei Hartz IV gelandet.
Auch Freunde und Nachbarn haben sich nach dem Mord von uns zurückgezogen, weil sie dachten: Da stimmt was nicht. Wenn die Polizei schon glaubt, dass das einer aus der Familie war, dann wird da schon was dran sein. Jetzt, wo die Sache aufgeklärt ist, kommen sie alle an. Ich weiß nicht, woher ich die Kraft hatte, das alles durchzustehen. Meine Mutter hat mich sehr unterstützt, ebenso die Familie meines Mannes. Aber in erster Linie war es Gott, der mir Kraft gegeben hat. Ich habe gebetet, gebetet, gebetet.
Als sich das Ganze dann im Herbst 2011 aufklärte, war das eine große Erleichterung. Gott sei Dank. Jetzt wissen wir, wer Freund und wer Feind ist. Aber nach all den Spekulationen bin ich nicht sicher: Ist das jetzt die ganze Wahrheit? Wer steckt wirklich hinter der Sache? Ich zweifle auch, dass das bei dem Prozess in München rauskommt. Wenn ich die Angeklagten dort sehe, wie sie lachen und scherzen, dann denke ich daran, wie ich all die letzten Jahre nicht mehr lachen konnte. Dennoch empfinde ich keinen Hass, auch nicht auf die Zschäpe. Für mich ist sie eine arme Frau – eine Kasperluppe, eine Marionette. Sie war noch sehr jung, als sie da reingezogen wurde. Ich glaube, man hat ein Spiel mit ihr getrieben. Da stecken andere dahinter – was weiß ich, wer. Da sind noch so viele Fragen offen, und ich würde so gerne die Wahrheit erfahren.
Das Wichtigste an dem Prozess ist für mich, dass er überhaupt stattfindet. Ich möchte, dass die Menschen erfahren, wie brutal diese Rechtsextremisten sind. Nach allem, was in Deutschland mit den Juden geschehen ist, hoffe ich, dass der Prozess den Menschen die Augen dafür öffnet, dass die Gefahr von rechts nicht vorbei ist. Und natürlich möchte ich, dass die Täter im Gefängnis landen, damit sie nie wieder so schreckliche Dinge tun können.
Man hat mir meine Zukunft genommen. Da können auch all die Beileidsbekundungen der Politiker nicht helfen. Ich war bei der Gedenkfeier mit Kanzlerin Angela Merkel. Sie hat ganz allgemein ihr Bedauern gezeigt. Aber das waren Worte, mehr nicht. Frau Merkel hat die Dinge nicht durchlebt, die ich durchleben musste. Sie hat nichts mit diesem NSU zu tun. Sie kann nichts dafür. Sie kann mit ihren Worten auch nicht meinen Mann zurückbringen. Niemand kann das. Trotzdem bleibt die Frage: Was ist mit uns, den Opfern? Wenn man uns damals unterstützt hätte, wäre unser Leben leichter gewesen. Hätte man uns damals geholfen, etwa mit einer gescheiten Arbeitsstelle, wäre der Schaden nicht so groß gewesen. Heute frage ich: Wie soll ersetzt werden, war wir verloren haben? Was gebt Ihr uns, damit wir eine Zukunft aufbauen können – egal, ob hier oder in der Türkei?
Für mich selbst sehe ich keine Zukunft mehr. Aber ich wünsche mir eine gute Zukunft für meine Tochter. Sie war erst zehn Jahre alt, als ihr Vater ermordet wurde. Sie hat es so schwer gehabt. Ich möchte sie glücklich sehen. Ich möchte, dass sie eine gute Arbeitsstelle findet und dass sie einen gescheiten Mann heiratet. Ihr Glück wäre das Schönste für mich.
Hin und wieder denke ich aber auch: Du bist jetzt 51, fang noch einmal von vorne an. Dann überlege ich, ein Geschäft in der Türkei aufzumachen. Denn nach allem, was passiert ist, bin ich mir nicht sicher, ob ich in Deutschland bleiben will. Aber ich kann auch nicht einfach weggehen. Ich bin ja nicht allein hier. Meine Tochter muss erst in München ihre Schule fertig machen. Und schließlich gibt es ja auch in der Türkei Probleme. Ich habe außerdem das Gefühl, ich muss hier noch etwas zu Ende bringen.
Manchmal träume ich davon, ein Kaffeehaus aufzumachen. Ich bin gern mit Menschen zusammen. Ein Kaffeehaus, ja, das wäre schön. Aber wer sagt mir, dass eines Tages nicht wieder Männer mit einer Pistole vor dem Tresen stehen? Dann bekomme ich Angst vor diesem Traum und ich fühle mich wieder so kaputt, so müde.
aus: Barbara John (Hrsg.), Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet, HERDER, 2014
Familie von Michèle Kiesewetter
Es vergeht kein Tag, an dem sie uns nicht fehlt
Plädoyer aus dem NSU-Prozess vom 8. Februar 2018
Wir wollen hier als Familie gemeinsam von Michèle Kiesewetter erzählen: unserer Tochter, Schwester, Enkelin und Cousine. Sie wurde 2007 während ihres Dienstes als Polizistin erschossen. Es war ihr Traumberuf. Schon mit elf Jahren verkündete Michèle, dass sie unbedingt Polizistin werden wolle. Ihr großes Vorbild war ihr Onkel. Alles, was er aus seiner Tätigkeit als Polizist erzählte, interessierte sie brennend. Sie wollte ebenso aktiv und vielseitig sein. Vielleicht hing das auch mit ihrem Bewegungsdrang zusammen. Michèle war sehr emsig und rastlos – eben ständig in Bewegung. Entspanntes Laufen oder spazieren gehen war kaum möglich. Sie ist einfach immer gesprungen oder gerannt. Sie liebte Fahrradfahren, Inlineskating, Laufen – alle Sportarten, die mit Schnelligkeit zutun haben. Bewegung, Power, Action!
Michèle war mutiger als die meisten Gleichaltrigen, sie war kein typisches Mädchen. Zu ihrem Freundeskreis gehörten auch viele Jungs. Zimperlich war sie nie, und oft hatte sie die Knie oder die Augenbrauen aufgeschlagen. Im Coburger Schwimmbad ist sie mit sieben Jahren, ohne jedes Zeichen von Ängstlichkeit, vom 7-Meter-Brett gesprungen. Später war sie drei Jahre lang als Biathlonsportlerin aktiv. Da konnte sie zeigen, was körperlich in ihr steckte.
Michèle hat alles daran gesetzt, Polizistin zu werden. Da sie nach ihrem Realschulabschluss 2001 erst 16 Jahre alt war, durfte sie noch keine Ausbildung bei der Polizei beginnen. Deshalb besuchte sie die Fachoberschule mit der Fachrichtung Soziales. 2002 bewarb sie sich bei der Polizei in Baden-Württemberg. Vor der Gesundheitsuntersuchung hatte sie großen Respekt: „Und was wird, wenn sie mich nicht nehmen?“ Dass es auch noch andere Berufe gibt, wollte sie nicht hören. Die Eignungsprüfung in Baden-Württemberg hat sie dann mit Bravour bestanden. Im Frühjahr 2003 erfolgte ihre Einstellung in den Polizeivollzugsdienst des Landes. Ihr war der Polizistenberuf wie auf den Leib geschnitten – physisch und psychisch.
Nach der Ausbildung in Biberach fing sie im September 2005 bei der Bereitschaftspolizei in Böblingen an. Während ihrer Tätigkeit dort gehörte sie zur BFE 523 (Beweissicherungs- und Festnahme- Einheit). Während ihrer Ausbildung und danach kehrte sie regelmäßig an den Wochenenden oder wenn der Dienst es zuließ in ihre Heimatstadt Oberweißbach zurück. Hier engagierte sie sich trotz der weiten Entfernung zum Dienstort im Kirmesverein.
Sie erzählte oft von ihrer Arbeit. Aufgrund der vielen polizeigebräuchlichen Abkürzungen war es teilweise schwierig nachzuvollziehen, was Michèle da eigentlich genau machte. Warum und wie Verdächtige zu durchsuchen sind, was alles zu beachten ist. Häufig hat sie bei Besuchen zu Hause Bekannte über „Scheißbullen“ reden hören. Dann hat sie heftig gekontert: „Es sind doch nicht alle Leute gut und gesetzestreu. Wollt Ihr das durchgehen lassen? Dann wird es immer schlimmer mit Kriminalität und Gewalt!“ Meist kamen daraufhin keine Widerworte. Im Gegenteil. Wenn Michèle von den positiven Erfahrungen ihres Dienstes berichtete, begannen die Leute zu verstehen, weswegen sie sich nicht für den Beruf, sondern vor allem für die Werte, die dahinterstehen, einsetzte.
Sie schwärmte von der guten Zusammenarbeit mit den Kollegen in Baden-Württemberg und wollte nach Karlsruhe. Im Dezember 2006 begann sie einen berufsbegleitenden Abiturlehrgang, weil sie später studieren und eine Laufbahn im höheren Dienst anstreben wollte.
Vier Monate später wurde sie hinterrücks erschossen. An diesem Tag sollte sie ihren Kollegen Martin A, der mit ihr im Auto saß und den Anschlag knapp überlebte, in die Arbeit einweisen. Sie hätte eigentlich frei gehabt, doch dann übernahm sie kurzfristig die Schicht in Heilbronn.
Wir denken oft daran, dass Michèle ausgerechnet für ihren Traum, Polizistin zu sein, ihr Leben verloren hat. Sie war noch so jung und hatte noch so viele Pläne. Sie wollte eine Familie gründen und Kinder haben, drei, vier. „Die bringe ich dann oft zu euch nach Oberweißbach“, hat sie gelacht, „Du nimmst sie doch auch einmal, Omi?“ Sie träumte vom Motorradführerschein, und im Winter 2007 wollte sie Skifahren lernen. Wenige Monate davor wurde sie ermordet.
Michèles jäher, gewaltsamer Tod war für uns unfassbar. Man begreift die harte Realität des Verlustes in keiner Weise. Die Trauer und der Schmerz waren überwältigend. Die Trauerfeiern in Böblingen und Oberweißbach und die Beerdigung waren nur schwer zu ertragen und stellten uns alle auf eine innere Zerreißprobe. Wir haben die vielen Mittrauernden und die Beileidsbriefe aus Oberweißbach und Umgebung wie aus der Ferne wahrgenommen – es war alles so unwirklich, wir wollten es nicht wahrhaben. Viele Freunde und Bekannte, auch aus Michèles Vereinen, waren zur Beerdigung da. Das hat uns sehr viel Trost gespendet. Allerdings fiel es uns schwer, auf das Geschehene und unseren Verlust angesprochen zu werden. Wir hatten allein aufgrund der zeitlichen Nähe zu diesem schicksalhaften Ereignis schwer daran zu tragen. Bei der Arbeit und auf der Straße wurde oft „getuschelt“: „Das ist doch die Schwester von der…“ oder „Guck mal, ist das nicht die Mutter?“ Wenn wir dann angesprochen wurden, antworteten wir nur knapp, um uns schnell dieser schwierigen Situation zu entziehen. Bis heute sind uns die guten und wahren Freunde und Bekannten von Michèle stets eine Stütze und Hilfe, gerade um mit solchen schwierigen Situationen umgehen zu können.
Vier Jahre später, als klar wurde, dass die NSU-Terrorzelle offenbar auch für den Mord an Michèle verantwortlich ist, durchlebten wir erneut eine schlimme Zeit. Das lag nicht nur daran, dass uns die Tatumstände und deren Hintergründe noch einmal tagtäglich in den Medien vor Augen geführt wurden, sondern auch an ungeschickten und wenig durchdachten Äußerungen einiger Ermittlungsbehörden. So behauptete der amtierende BKA-Chef Jörg Ziercke, dass der Anschlag auf Michèle und ihren Polizeikollegen eine Beziehungstat gewesen sei – ohne dabei auf die genaue polizeiliche, ermittlungstechnische Definition von „Beziehungstat“ einzugehen. Damit suggerierte er einen nachgewiesenermaßen falschen, nämlich persönlichen Zusammenhang zwischen Michèles Tod und den Zusammenkünften von rechtsextremistischen Gruppierungen in unserem Nachbarort. Diesen falschen Sachverhalt griffen allerdings die überregionalen sowie lokalen Zeitungen auf. Plötzlich war der ganze Ort voll mit Journalisten und Kameras. Die Aufdringlichkeit dieser „medialen Beobachter“ kannte nahezu keine Grenze und wurde so auf die Spitze getrieben, dass wir stundenlang nicht vor die Tür gehen konnten.
In der Öffentlichkeit wurden damit auch fälschlicherweise Oberweißbach und die Umgebung als eine durch die rechte Szene beherrschte Gegend dargestellt, das war für die meisten Menschen hier sehr diffamierend. Sie waren empört. Der Bürgermeister reagierte schließlich mit einem offenen Brief, um diese falschen Behauptungen zu entkräften.
Wenn wir sagen sollen, was uns heute, sieben Jahre nach Michèles Tod, das Wichtigste ist, dann wäre es die Forderung, dass endlich die rechtsradikalen Netzwerke von damals und heute aufgedeckt werden. Sei es durch einen der vielen Untersuchungsausschüsse oder die parallele kriminaltechnische Polizeiarbeit. Doch um alles herauszufinden, ist es möglicherweise schon zu spät. Inzwischen ist so viel Zeit vergangen, so viele Unterlagen sind bereits verschwunden. Heute kann jeder sagen: Das weiß ich nicht mehr.
Uns ist nach wie vor völlig unverständlich, wie das Trio Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe sich so lange im Untergrund versteckt halten konnte. Wie kann es sein, dass die Polizei unterm Strich so gut wie nichts an zutreffenden Fakten richtig ermittelt hat? Warum haben LKA, BKA, Verfassungsschutz etc. nicht besser zusammengearbeitet? Sei es im Fall der falschen Fährte um das „Phantom von Heilbronn“ oder aber bei den Fakten-Puzzleteilen unterschiedlicher Polizeibehörden, die einfach nicht zusammengefügt wurden. Wäre das gelungen, hätten die Täter früher entdeckt werden können. Erschreckend bleibt für uns bis heute, wie einseitig damals ermittelt wurde. Die Behörden hätten die Morde verhindern können, wenn sie nicht nur in Richtung organisierte Kriminalität ermittelt hätten. Leider waren scheinbar alle Behörden auf dem rechten Auge blind. Traurig daran ist, dass erst so viele Menschen sterben mussten, um das Ausmaß rechtsextremistischer Gewalt in Deutschland aufzudecken.
Was uns nach wie vor ungeheuer quält, ist die Frage: Warum? Warum dieser Mord? Warum Michèle? Für uns wäre es so wichtig zu wissen, warum Michèle sterben musste. Was hatten die Täter für Gründe?
Michèle und ihr Kollege wurden während ihrer Pause am Rande der Theresienwiese in ihrem Polizeiauto erschossen. Auf diesem Volksfest bieten Verkäufer aus den unterschiedlichsten Kulturen ihre Ware feil. Vielleicht wollten die Täter auf dem Volksfest in Heilbronn wieder Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund angreifen? Waren Michèle und Martin daher einfach nur zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort? Nach wie vor können wir darüber nur spekulieren. Denn diejenige, die es wissen könnte, die Angeklagte Beate Zschäpe, schweigt sich aus. Das ist für uns äußerst schwer zu ertragen. Dabei liegt die Vermutung nahe, dass sie etwas zu verbergen hat. Wir hoffen daher, dass die Justiz mit beiden Augen wachsam ist und jedes Detail aufklärt. Ob es im Falle eines Schuldspruches eine gerechte Strafe für die Angeklagten geben kann, ist fraglich.
In Gedenken an die Ermordung von Michèle wurde in Heilbronn eine Stele aufgestellt. Hier fanden und finden zu ihrem Todestag regelmäßig Gedenkveranstaltungen statt, bei denen Familienangehörige anwesend sind. Im Zuge der Aufdeckung des NSU wurde die Stele durch eine Gedenkplatte mit den Namen aller Opfer ersetzt. In ihrer Kaserne in Böblingen, in der Michèle ihren Dienst verrichtete, wurde von Kollegen ein Baum gepflanzt, um ihr Gedenken zu bewahren. An diesem Ort können wir und auch ihre Kollegen trauern, wofür wir äußerst dankbar sind.
Wir können nicht beschreiben, wie sehr wir Michèle vermissen, dazu schmerzt es zu sehr. Zeit heilt in diesem Fall leider keine Wunden. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht an Michèle denken und an dem sie uns nicht fehlt.
aus: Barbara John (Hrsg.), Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet, HERDER, 2014
Ehefrau von Mehmet Kubaşık
Wir sind ein Teil dieses Landes, und wir werden hier weiterleben
Plädoyer aus dem NSU-Prozess vom 21. November 2017
Mein Name ist Elif Kubaşık. Ich bin Kurdin, Alevitin, Dortmunderin, deutsche Staatsangehörige. 1991 sind mein Mann Mehmet, unsere Tochter Gamze und ich als Flüchtlinge hierher nach Deutschland gekommen und haben politisches Asyl erhalten.
Mein Mann Mehmet wurde am 4. April 2006 von der Terrororganisation NSU ermordet.
Mehmet und ich haben uns sehr geliebt und daraufhin geheiratet. Er war sehr liebevoll, er war sehr besorgt um seine Familie, er war vernarrt in seine Kinder, er hatte eine sehr enge Beziehung zu seiner Tochter Gamze. Jeder Mensch, ob klein oder groß, ob jung oder alt, mochte ihn.
All die guten Dinge fallen mir ein über Mehmet, wenn ich an ihn denke, was für ein Mensch er war, wie schön er war, als Mensch, was für ein Vater er war.
Mein Herz ist mit Mehmet begraben.
Ich glaube, die Stärke, die ich heute zeigen kann, die kommt einfach von der Beziehung mit ihm. Ich glaube, das Vertrauen, vor allem auch die Sicherheit, die er mir gegeben hat, hat mich stark gemacht.
Zu diesem Prozess zu kommen, war niemals leicht für mich, heute ist es auch nicht leicht für mich, diese Leute zu sehen, das auszuhalten, ist nicht leicht. Ich war immer wieder krank, nachdem ich hier war. Besonders schwer ist es für mich, den Anblick dieser Frau auszuhalten. Ekelhaft, einfach ekelhaft aber war ihre Aussage. Es ist alles Lüge, was sie sagte. Sogar die Form, wie sie sich entschuldigt hat, war verletzend. Das war so, als würde sie uns beleidigen. Mein Arm wurde taub durch die Anspannung, weil ich versucht habe, mich währenddessen zusammenzureißen. Man hatte das Gefühl, sie macht sich lustig über uns.
Aber auch der Tag, an dem die Polizisten aus Dortmund ausgesagt haben, war ein schlimmer Tag für mich: zu hören, welchen Beweisen sie überhaupt nicht nachgegangen sind, was sie sich nicht einmal angeschaut haben.
Ich will, dass die Angeklagten hier verurteilt werden, ich will, dass sie ihre Strafe bekommen.
Aber für mich wäre weitere Aufklärung auch sehr wichtig gewesen.
Hier im Prozess sind meine Fragen nicht beantwortet worden: Warum Mehmet, warum ein Mord in Dortmund, gab es Helfer in Dortmund, sehe ich sie heute vielleicht immer noch, es gibt so viele Nazis in Dortmund, und für mich so wichtig, was wusste der Staat? Vieles davon bleibt unbeantwortet nach diesem Prozess. Frau Merkel hat ihr Versprechen von 2012 nicht gehalten.
Aber eines möchte ich zum Abschluss noch sagen:
Die, die das gemacht haben, die diese Taten begangen haben, sollen nicht denken, weil sie neun Leben ausgelöscht haben, dass wir dieses Land verlassen werden. Ich lebe in diesem Land, und ich gehöre zu diesem Land. Ich habe zwei Kinder in diesem Land zur Welt gebracht, und mein Enkel Mehmet ist hier zur Welt gekommen.
Wir sind ein Teil dieses Landes, und wir werden hier weiterleben.
aus: Antonia von der Behrens (Hrsg.), Kein Schlussswort. Nazi-Terror. Sicherheitsbehörden. Unterstützernetzwerk, VSA: Verlag, Hamburg 2018
Ehefrau von Mehmet Kubaşık
Das ist kein gerechtes Urteil
Erklärung vom 30. April 2020 zum Urteil des OLG München
Immer wieder bin ich nach München ins Gericht gekommen, ich habe als Zeugin ausgesagt, obwohl es mir unendlich schwerfiel. Aber ich schuldete dies Mehmet. Für ihn, für uns, für unsere Kinder habe ich gekämpft.
Ich hatte so viele Fragen: Wie konnte eine bewaffnete Gruppe über Jahre hinweg faschistische Morde und Anschläge in Deutschland begehen? Warum wurden sie nicht gestoppt? Was wusste der Staat davon? Bevor Mehmet ermordet wurde, hatten sie schon sieben andere Menschen umgebracht.
Ich fragte mich, wie groß diese Gruppe war. Das waren doch nicht nur diese drei. Gehörten sie zu der Gruppe Nazis aus Dortmund? Liefen die Helfer dieser Mörder vielleicht in einer der vielen Nazidemonstrationen mit, die auch an unserem Haus vorbei ziehen? Man muss kein hoher Polizist sein, um zu sehen, wie gefährlich sie sind, wie viel Hass sie haben.
Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten, bin ich zum Gericht gekommen.
Und ich wollte ein gerechtes Urteil.
Aber dann kam der Tag, als Sie als Gericht das Urteil gesprochen haben.
Dieser Tag hat sich bei mir eingebrannt. Ich konnte es nicht vergessen, mit welcher Unbarmherzigkeit Sie versucht haben Ismail Yozgat, der seinen Sohn verloren hat, während des Urteils zum Schweigen zu bringen. Dabei klagte er nur aus Schmerz.
Ich habe nicht verstanden, warum wir Ihnen kein Wort wert waren, warum Sie nicht mehr als die Anzahl der Schüsse erwähnten, mit denen Mehmet ermordet worden ist. Sie hatten mich doch sogar im Zeugenstand gefragt, was er für eine Persönlichkeit gewesen war, was der Mord bei uns angerichtet hat.
Ich habe nicht verstanden, warum Sie unsere Fragen nicht wenigstens in Ihrem Urteil erwähnt haben. Warum hatten Sie nicht einmal genug Respekt, uns zu erklären, warum diese Fragen in Ihrem Verfahren und in Ihrem Urteil keinen Platz hatten?
Ich konnte dies nicht ertragen. Noch während Sie kalt das Urteil vorlasen, habe ich den Saal verlassen. Wahrscheinlich haben Sie nicht einmal das bemerkt.
Jetzt haben Sie viel Zeit verstreichen lassen, bis Sie uns das Urteil geschickt haben. Das Urteil ist sehr lang. Aber warum haben Sie dann nicht wenigstens aufgeschrieben, wonach Sie uns gefragt haben, was Sie von all den Zeugen, von uns und allen anderen gehört haben, was diese Morde mit uns und unseren Familien angerichtet haben? Warum haben Sie nicht das aufgeschrieben, was herausgekommen ist über die vielen Helfer dieser Gruppe, was herausgekommen ist darüber, wer alles über diese drei Leute Bescheid wusste, wie nah der Staat ihnen war? Warum haben Sie nicht aufgeschrieben, dass man nicht die ganze Wahrheit finden kann, wenn Akten zerstört werden, wenn Zeugen lügen?
Die Gerechtigkeit, die ich uns gegenüber erhofft hatte, hat das Urteil nicht gebracht. Es ist, als ob Mehmet nur eine Nummer für Sie gewesen ist, als ob es unsere Fragen nicht gegeben hätte.
Wir wollten nichts Unmögliches. Wir wollten, dass Sie uns ernsthaft zuhören, uns, die schon vor allen anderen ahnten, dass hinter den Morden Nazis stecken. Wir wollten, dass Sie Ihre Pflicht tun. Dass Sie untersuchen, was geschehen ist, dass Sie aufschreiben, was gesagt worden ist.
Die Hoffnung, Antworten zu erhalten, habe ich trotz allem und trotz Ihnen nicht ganz aufgegeben. Es gibt zu viele Menschen, die bis heute nicht loslassen, die für uns und für die ganze Gesellschaft um die Wahrheit kämpfen, die dafür sorgen, dass Mehmet und all die anderen Opfer nicht vergessen werden. Ihnen gilt meine Dankbarkeit.
Tochter von Mehmet Kubaşık
Sie haben das Versprechen gebrochen!
Plädoyer aus dem NSU-Prozess vom 22. November 2017
Mein Name ist Gamze Kubaşık. Ich möchte am Ende dieses Prozesses auch noch etwas sagen: Vor über vier Jahren, als das hier angefangen hat, habe ich gehofft, dass alle, die mit dem Mord an meinem Vater zu tun haben, auch verurteilt werden und eine gerechte Strafe bekommen. Heute, am Ende dieses Prozesses, weiß ich immer noch nicht, wer außer den Angeklagten alles noch beteiligt gewesen ist. Ich weiß auch nicht, warum ausgerechnet mein Vater ausgewählt wurde. Ich weiß auch bis heute nicht, wer in Dortmund geholfen hat oder aber wer unseren Kiosk vor dem Mord ausspioniert hat. Auch verstehe ich bis heute nicht, warum diese Menschen nicht gestoppt worden sind. Man kannte sie doch auch und wusste, wo sie sind.
Das einzige, was ich nach diesem Prozess weiß, ist, dass diese fünf Menschen hier schuldig sind.
Holger Gerlach: Ich glaube, dass er wusste, was Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe 13 Jahre lang gemacht haben. Er ist kein Trottel, der nur alten Freunden helfen wollte. Ich glaube, er wusste genau, was die vorhatten, und er wollte das auch so. Ich finde gut, dass er hier überhaupt etwas gesagt hat. Ob ich das aber glaube, ist eine andere Sache. Er hat nach meiner Meinung versucht, sich hier „gut zu reden“. Das hat nicht funktioniert. Weil er denen geholfen hat, ist er mit schuld am Tod von meinem Vater. Er hätte die drei ja auch damals verpfeifen können. Dann hätte er verhindert, dass so viele Menschen sterben müssen. Er sollte sich klarmachen, dass er auch dafür verantwortlich ist, dass ich meinen Vater verloren habe und meine Geschwister ohne Vater aufwachsen mussten.
André Eminger: Ich habe keinen Zweifel, dass er ganz eng mit dabei war. Er war so eng mit diesen drei Leuten, dass er gewusst hat, was die machen, dass die Morde begehen. So wie er heute hier sitzt, bin ich auch davon überzeugt, dass er an seiner Nazi-Einstellung nicht ein bisschen geändert hat. Er ist für mich der Schlimmste von allen Helfern des NSU. Ich glaube außerdem, dass er nicht nur Unterstützer war, sondern eigentlich mit denen auf einer Stufe.
Carsten Sch.: Er ist der einzige, dem ich hier persönlich abnehme, dass ihm das, was hier passiert ist, leidtut. Er war damals auch noch jung. Er hat hier das Mindeste getan, was er heute tun kann. Er hat geholfen, die Wahrheit zu finden. Auch wenn ich glaube, dass er seine Nazi-Einstellung von früher hier nicht schonungslos und offen erzählt hat, bin ich bereit, seine ehrliche Reue anzuerkennen.
Ralf Wohlleben: Er ist dafür verantwortlich, dass der NSU eine Waffe mit Schalldämpfer bekommen hat. Mit dieser Waffe wurde mein Vater ermordet. Er war Helfer der ersten Stunde für diejenigen, die diese ganzen Menschen umgebracht haben. Die anderen Ermordeten und auch mein Vater haben ihm überhaupt nichts getan. Er kannte sie gar nicht. Ich verstehe diese ganze Nazi- Ideologie nicht. Für mich ergibt das keinen Sinn. Wohlleben ist schlau und gefährlich. Er war der, der alles mitorganisiert hat. Wie er sich in diesem Prozess hier verhalten hat, zeigt mir, dass er an seiner Einstellung nichts geändert hat.
Beate Zschäpe: Sie ist für mich genauso schuldig wie diejenigen, die mit eigener Hand auf meinen Vater geschossen haben. Sie hat alles mitgeplant. Was ich bis heute nicht verstehe, ist, warum sie dann nicht auch zu ihren Taten steht. Das finde ich feige! Sie hat doch selbst dieses Video verschickt. Ich bin mir sicher, dass sie es auch kannte und wollte, dass wir Familien noch einmal darunter leiden. Wenn sie das aber alles so wollte, warum stellt sie sich dann hier nicht hin und sagt das wenigstens?
Ich glaube auch kein Wort von dem, was ihre Anwälte hier für sie vorgegeben haben. Das macht überhaupt keinen Sinn und war auch total unpersönlich. Wenn ich hier höre, dass Zschäpe das Haus in Zwickau angezündet hat, wo beinahe drei Menschen ums Leben gekommen wären und nur ihre Katzen retten wollte, zeigt mir das, was für eine Persönlichkeit sie hat.
Und wenn sie sich wirklich für die Morde schämen würde, wenn sie Reue zeigen würde – warum hilft sie uns dann nicht? Warum sagt sie nicht, wie es passiert ist? Warum sagt sie nicht, wer alles noch mitgeholfen hat? Warum sagt sie nicht, warum unbedingt mein Vater umgebracht werden musste? Warum beantwortet sie all unsere Fragen nicht?
Frau Zschäpe, wenn Ihnen wirklich irgendwann leidtut, was passiert ist, dann antworten Sie! Das geht auch dann noch, wenn dieser Prozess hier vorbei ist.
Ich habe immer noch so viele Fragen, auf die ich keine Antworten bekommen habe. Daran sind aber auch die Ankläger hier Schuld. Frau Merkel hatte mir persönlich versprochen, dass alles unternommen wird, um die Taten vollständig aufzuklären und alle Täter einer gerechten Strafe zuzuführen.
Sie haben vielleicht viel dafür getan, dass diese fünf hier verurteilt werden. Aber was ist mit den ganzen anderen? Ich glaube nicht daran, dass Sie noch irgendwann jemanden anderes anklagen. Für Sie ist die Sache doch hier abgeschlossen.
Für mich und meine Familie bleibt es aber ein Leben lang so, dass ich mit quälenden Fragen leben muss. Ich hatte am Anfang von diesem Prozess so viel Hoffnung, dass nach so langer Zeit jetzt endlich Gewissheit kommt, dass es eine Sicherheit gibt. Diese Hoffnung gibt es nicht mehr. Wir werden wahrscheinlich nie zur Ruhe kommen.
Sie haben das Versprechen gebrochen!
aus: Antonia von der Behrens (Hrsg.), Kein Schlussswort. Nazi-Terror. Sicherheitsbehörden. Unterstützernetzwerk, VSA: Verlag, Hamburg 2018
Tochter von Abdurrahim Özüdoğru
Plädoyer aus dem NSU-Prozess vom 21. Dezember 2017
Mein Vater lebte bereits 29 Jahre in Deutschland, als diese Tat passierte. Ein junger Mann, der aufgrund seiner guten schulischen Leistungen ein Stipendium für ein Studium in Deutschland erhielt und so 1972 an der Universität Erlangen das Studieren begann. Ein Mann, der seine gesamte Jugend hier in Deutschland verbracht und viele deutsche Freunde hatte, ein Mann, der mit der deutschen Kultur und ihren Menschen zusammengeschmolzen war.
Dieser Mann, mein geliebter Vater, wurde in einem 1.-Welt-Land, in dem ökonomisch und technisch hochentwickelten modernen Deutschland, am Tageslicht kaltblütig, brutal und auf professionelle Weise ermordet. Von Mördern, die ihre eigene Unfähigkeit, dem Leben etwas Positives abzugewinnen, auf unschuldige Menschen übertragen haben, von sinnlosem Hass und Minderwertigkeitskomplexen getrieben. Sie haben den Weg der Charakterschwachen gewählt und somit auch gänzlich ihr eigenes Leben verbaut. Mein Vater wurde Opfer von Hass und Gewalt, Opfer von Verharmlosung rechter Gewalt.”
Ich empfinde Verachtung, Wut und Ekel für die Täter. Unschuldige Menschen wurden regelrecht hingerichtet. Deshalb können sich alle Täter Heucheleien wie Entschuldigungsversuche sparen. Die Menschen sind nicht dumm. Die Familien wurden emotional, finanziell und gesellschaftlich ruiniert. Viele Angehörige kämpfen bis heute noch mit den Folgen dieser Taten und vor allem: Diese Taten waren nicht nur ein Angriff auf die Opfer selbst, sondern auch auf das, was 98 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen glauben. Sie waren ein Angriff auf die demokratischen Grundwerte Deutschlands, ein Angriff auf die Menschenwürde, ein Angriff auf das friedliche Miteinander, ein Angriff auf Deutschland selbst.
Das Ziel, die Gesellschaft auseinanderzudividieren, das haben sie allerdings deutlich verfehlt. Und sie haben es auch nicht geschafft, Menschen wie mich aus diesem Land herauszuekeln. Im Gegenteil, jetzt sind wir alle, sowohl Deutsche als auch ausländische Mitbürger, die in diesem Land ihre Lebenszeit verbringen, sensibilisierter denn je. Es ist mein Heimatland. Ich bin eine deutsche junge Frau mit ausländischen Wurzeln, die in diesem Land geboren ist, und fremd fühlt sich hier schon längst niemand mehr. Wir sind die Jugend, die Gesellschaft, die den Weg der Charakterstarken wählten, und bemühen uns, für Menschen und dieses Land nützlich zu sein, anstatt durch Hass und primitive Gefühle uns lenken zu lassen. Ich sage ganz deutlich: Es ist wichtiger denn je, die Augen vor Tatsachen nicht mehr zu verschließen. Das am Ende dieser Verhandlung erlassene Urteil für die einzelnen Täter und der Umgang mit dieser gesamten Situation sollten wichtige Zeichen für unsere Gesellschaft setzen. Ich erwarte, ja, ich fordere als eine betroffene Angehörige das Höchstmaß an Strafe für alle Täter. Ich erwarte, dass Ihr Urteil ein klares Zeichen für das Miteinander dieser Gesellschaft setzt und nicht für das Nebeneinander.
Es ist ein Schatten auf Deutschland gefallen. Es ist die Aufgabe von allen zuständigen Behörden und Institutionen, diesen Schatten wegzuwischen und den Familien inneren Frieden zu schenken. Leider bin ich auch, wie die anderen Opferangehörigen, der Meinung, dass dies nicht ausreichend geschehen ist. Die lückenlose Aufklärung der Hintergründe wurde nicht wie versprochen erfüllt.
Es war auch gesellschaftlich eine wichtige Chance gewesen, um gefährliche Strukturen zu unterbinden und auch das hinterlassene negative Bild in der Öffentlichkeit zu korrigieren. Vor allem in diesem Punkt richten sich meine Worte nicht nur an die Gerichtsverhandlung, sondern auch an alle zuständigen Behörden und Institutionen. Dies ist eine ernstzunehmende Verantwortung von allen und darf nicht missachtet werden.
Ich meine, dass das Gewissen ein guter Wegweiser ist. Wir haben gut genug und deutlich mitbekommen, was Verdrängung und Verharmlosung der Tatsachen für Folgen hat. Früher oder später fliegt alles auf, und am Ende schadet es den ganzen Institutionen und Behörden und ganz Deutschland, denn sie verlieren das Vertrauen der Menschen in Deutschland. Und Vertrauen ist das, was einem Land Stabilität verleiht. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Plädoyer vom 10. Januar 2018
Sohn von Enver Şimşek, dem ersten Mordopfer des NSU.
Hoher Senat, mein Name ist Abdul Kerim Şimşek Ich bin der Sohn von Enver Şimşek. Ich war 13 Jahre alt, als mein Vater umgebracht wurde.
Ich kann mich sehr gut an den 9. September 2000 erinnern. Ich befand mich damals im Internat in Saarbrücken. Am 10. September 2000 um sechs Uhr morgens weckte mich mein Lehrer und sagte, dass ich mit dem Zug nach Nürnberg fahren müsse und dort von Verwandten abgeholt werde. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, rief zu Hause an, aber erreichte niemanden. Ich wurde am Bahnhof von meinem Onkel abgeholt und er sagte, dass mein Vater im Krankenhaus sei.
Als ich vor dem Krankenhaus ankam, sah ich viele Verwandte und meine Mutter, die geweint hat.
Als ich auf sie zuging, merkte ich, dass sie nicht ansprechbar war, und meine Schwester war bei ihr. Ich spürte, dass etwas Furchtbares passiert war. Ich fragte gleich nach meinem Vater. Niemand sagte mir etwas Näheres, nur dass er auf der Intensivstation lag. Ich durfte meinen Vater stundenlang nicht sehen.
Als wir, meine Mutter, meine Schwester und ich, endlich zu ihm durften, war das ein schrecklicher Anblick. Ich bemerkte als Erstes, dass sein linkes Auge zerfetzt war. Je näher ich mich ihm näherte, bemerkte ich drei blutverschmierte Löcher in seinem Gesicht und weitere an seiner Brust.
Automatisch hatte ich diese gezählt. Ich glaube, ich hatte damals sechs Löcher gezählt. Ich werde das nie vergessen.
Mir war klar, dass mein Vater nicht mehr derselbe sein würde und er trotz Hoffnung wahrscheinlich sterben wird. Meine Mutter hat die Hand meines Vaters gehalten, fiel heulend auf die Knie und ist zusammengebrochen. Auf einmal fingen die an meinem Vater angeschlossenen Maschinen an zu piepen. Die Krankenschwester eilte herbei und drängte uns raus. Das war das letzte Mal, dass ich meinen Vater lebend gesehen habe. Wir warteten den ganzen Tag im Krankenhaus und meine Mutter war nicht ansprechbar.
Dadurch, dass mein Vater noch lebte, hatten wir Angst, weil wir dachten, dass die Täter noch mal kommen würden, um die Tat zu Ende zu bringen. Ich wollte nicht weg. Ich wollte meinen Vater schützen.
Irgendwann kam der Arzt zu meiner Schwester und mir und sagte, dass die Überlebenschancen sehr gering seien. Mein Vater starb am nächsten Tag.
Wir brachten den Leichnam meines Vaters in die Türkei, um ihn zu beerdigen. Als Sohn hatte ich die Pflicht, meinen Vater zu Grabe zu tragen. Ich musste ihn mit anderen Verwandten ins Grab legen. Bei uns gibt es keinen Sarg, sondern nur ein weißes Leinentuch, wo der Verstorbene eingewickelt wird. Beim Niederlegen meines Vaters bemerkte ich, dass sich das Leinentuch am Hinterkopf, wo die Schussverletzung war, rot verfärbte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht geweint. Als ich die Erde auf ihn schüttete, konnte ich nicht mehr. In dem Augenblick hatte ich verstanden, dass ich meinen Vater nie wieder sehen werde. Zurück in Deutschland war nichts mehr so wie früher. Meine Mutter hat immer geweint und hatte, wie wir heute wissen, schwere Depressionen, sie konnte sich nicht um mich und meine Schwester kümmern. Mein Vater war ein sehr geselliger Mensch, der in seiner Freizeit viel mit uns unternommen hat. Mit seinem Tod hörte unser gesellschaftliches Leben auf.
Die finanziellen Mittel waren nach dem Tod meines Vaters sehr eingeschränkt und ich versuchte, meiner Mutter nicht mehr zur Last zu fallen. Ich habe nie meine Gefühle gezeigt und es fällt mir auch jetzt sehr schwer, dies alles zu sagen, während meine Mutter heute da ist. Aber ich war ja damals selbst noch ein Kind.
Bis zur Aufdeckung des NSU habe ich niemandem erzählt, dass mein Vater umgebracht wurde.
Obwohl ich sicher war, dass mein Vater kein Krimineller war, habe ich versucht, die Ermordung meines Vaters geheim zu halten. Es klingt absurd, aber ich war erleichtert, als ich hörte, dass mein Vater von Nazis umgebracht wurde und so seine Unschuld bewiesen wurde. Die Heimlichtuerei konnte endlich aufhören.
Ich bin heute selbst Vater einer zweijährigen Tochter. Und heute ist mir klar, dass er nicht nur mir und meiner Schwester, sondern auch meinem Kind weggenommen wurde. Ihr werde ich, wenn die Zeit kommt, erzählen müssen, dass ihr Opa nur aufgrund seiner Herkunft von Nazis umgebracht wurde.
Es gab viele Augenblicke in meinem Leben, in denen ich meinen Vater sehr vermisst und gebraucht habe. Mein Vater wäre heute 56 Jahre alt. Wir könnten noch so vieles teilen und unternehmen. Dies alles wurde uns genommen.
Auch ich hätte viele Fragen an die Angeklagten gehabt. Warum mein Vater? Wie krank ist es, einen Menschen nur aufgrund seiner Herkunft oder Hautfarbe mit acht Schüssen zu töten? Was hat mein Vater Ihnen getan? Können Sie überhaupt verstehen, was es für uns heißt, dass er nur deswegen ermordet wurde, weil er ein Türke ist? Können Sie verstehen, was es für uns heißt, im Bekennervideo den Vater blutend auf dem Boden zu sehen und zu wissen, dass er dort stundenlang hilflos lag?
Wenigstens einer der Angeklagten hat hier umfassende Angaben gemacht und sich aus meiner Sicht aufrichtig entschuldigt. Herr Schultze, wir nehmen Ihre Entschuldigung an.
Plädoyer vom 28. November 2017
Solange die wahren Täter nicht gefasst worden sind, werden meine Ängste weiterbestehen
Sehr geehrter Herr Richter,
ich möchte meine Rede mit folgenden Worten anfangen: Als erstes wünsche ich allen im Saal außer dieser Mörderin, ihren Unterstützern und Verteidigern, also Anwälten, einen guten Morgen.
Wir wussten, dass an dem Tag, an dem die Bombe geworfen wurde, der Umstand, dass sowohl die Polizei als auch die Krankenwagen zu spät kamen, darauf zurückzuführen war, dass in unserer Straße Ausländer die Mehrheit darstellten. Dazu noch die Worte des damaligen Innenministers, es sei kein Terroranschlag gewesen, dies enttäuschte uns alle, die Betroffenen in unserer Straße.
Dass nach der Bombe weder der Bürgermeister noch ein hochrangiger Polizist noch irgendein sozialer Dienst kam, dass die Straße und die Betroffenen sich selbst überlassen wurden, führte uns vor Augen, wie stark der Rassismus in diesem Land geworden war.
Die Keupstraße ist eine Straße in Köln, sie ist ein Ort, der zu Köln gehört, eine Straße dieses Staates. Und aus diesem Grund hat der Staat sich um uns zu kümmern. Wir zweifeln an der Justiz, an Gerechtigkeit und an Gleichheit, an der Demokratie eines Staates, der sich nicht um uns kümmert.
Es ist unfassbar, dass die Zivilpolizisten beim Verhör die Ereignisse absichtlich in eine andere Richtung lenkten und uns verdächtigten. Die barschen Gesichtsausdrücke der Polizisten, ihr unmenschliches Verhalten passten überhaupt nicht zu Polizisten dieses Landes. Den Polizisten, die ständig die gleichen Fragen stellten, sagte ich, dass ich wusste, wer die Täter waren. Und der Polizist fragte mich, wer sie waren. Ich sagte, dass die Täter Neonazis waren. Der Gesichtsausdruck des Polizisten veränderte sich und er sagte mir „Pscht!“ Er änderte seinen Gesichtsausdruck und sagte mir, dass ich schweigen sollte, indem er seinen Zeigefinger zu seinem Mund führte und „Pscht“ sagte. Und ich sprach nie wieder.
Danach wurde ich viereinhalb bis fünf Monate lang von meinem Laden bis in meine Wohnung verfolgt.
Dieser psychische Druck ruinierte mein Leben. Ich konnte es meiner Frau nicht sagen. Mein Sohn war damals drei Jahre alt, ich konnte mich nicht mehr um ihn kümmern. Ich konnte nicht mehr mit meiner Frau sprechen. Ich war wie ein Geist in unserer Wohnung und zog mich aus meinen sozialen Aktivitäten zurück. Es gab zahllose Tage, an denen ich nachts im Bett schreiend aufwachte. Während alle schliefen, konnte ich um Mitternacht nicht einschlafen. Manchmal ging ich hinaus und lief eine halbe oder ganze Stunde in den Straßen herum. Ich fing an, unter Panikattacken zu leiden, und bekam es mit Flugangst zu tun. Überall, wo ich hingehe, spaziere, herumlaufe, bin ich immer noch in Furcht. Denn solange die wahren Täter nicht gefasst und der Justiz übergeben worden sind, werden meine Ängste weiterbestehen. Solange der Staat ihnen Toleranz entgegenbringt, werden sie ungestört tun und lassen, was sie wollen.
Für mich sind alle, die in ihren Organisationsstrukturen sind, schuldig und sollten bestraft werden.
Hochachtungsvoll.
aus: Antonia von der Behrens (Hrsg.), Kein Schlussswort. Nazi-Terror. Sicherheitsbehörden. Unterstützernetzwerk, VSA: Verlag, Hamburg 2018
Schwester von Süleyman Taşköprü
Lasst uns einfach in Ruhe
Einen Stern hatte ich meinem Bruder Süleyman versprochen. Einen Stern, wie er ihn in Hollywood auf dem Walk of Fame gesehen hatte für Filmstar Sylvester Stallone. Dem sah er ähnlich und darauf war er stolz. Damals haben wir im Wohnzimmer herumgealbert. Er sagte: „Wenn Du vor mir stirbst, lasse ich auf deinen Grabstein schreiben: „Ehrlich gestorben und Klugscheißer““. Ich habe geantwortet: „Wenn Du vor mir stirbst, kriegst Du deinen Stern.“ Nun ist dieser Stern für Süleyman im Bürgersteig eingelassen, direkt vor unserem ehemaligen Gemüsegeschäft, in dem er ermordet wurde. Nie hätte ich gedacht, dass ich mein Versprechen auf so traurige Weise einhalten müsste.
Mein Bruder Süleyman war fünf Jahre älter als ich, aber ich war immer seine „große Schwester“. Er hat mich stets angerufen, wenn er Probleme hatte. Die schönste Erinnerung an ihn ist, dass er meiner Schwester Aynur und mir immer Riesenkartons mit Süßigkeiten geschickt hat – Torten aus Marshmallows und andere Leckereien. Mein ganzes Zimmer war voll mit diesen Dingern. Unserer Mama hat er immer Blumen geschickt. Sie war eine ganz besondere Bezugsperson für ihn.
Süleyman ist sehr früh von zu Hause ausgezogen. Er hat schon früh sein eigenes Leben gelebt – ohne uns und unsere Familie. Es war nicht immer einfach mit ihm. Er war sehr stur und zielstrebig; hat alles daran gesetzt, das zu erreichen, was er wollte. Wenn es um seine Ziele ging, konnte er manchmal sehr dickköpfig sein. Erst nach der Geburt seiner Tochter Aylin ist er wieder zu uns zurückgekommen und in unsere Nähe gezogen. Die kleine Aylin hat ihm sehr viel bedeutet. Er hat sie überall mit hingenommen. Ganz Altona kannte sie, sie war ständig auf seinem Arm. Er hat auf sie aufgepasst, ist immer hinter ihr hergelaufen. Sie war seine kleine Prinzessin. Dass er eine Tochter hatte, hat sein Leben und seine Einstellungen total verändert. Er wollte zeigen, dass er bereit ist, Verantwortung zu übernehmen.
Er wollte mit in unser Gemüsegeschäft einsteigen. Wenige Monate bevor er ermordet wurde, habe ich ihm deshalb den Laden auf Probe übergeben und er hatte große Pläne damit. Er wollte das Geschäft erweitern, zusätzlich zum Gemüse – einen Weinladen aufmachen. Er hat mit dem Großmarkt verhandelt, dass er mehr Ware bekommt und wir die nicht mehr vorab zahlen müssen. Die ganzen Regale hat er umgestellt, die Waren aufgefüllt. Er ist richtig aufgeblüht – so sehr, dass ich dachte: Nun wird er überheblich. Er hat uns andere weggeschickt, selbst unsere Mutter, die bisher hinten im Laden immer die Brote gemacht hatte. Nur mein Vater sollte ihm noch helfen. Er wollte beweisen, dass er es alleine schafft. Und dann haben seine Mörder all diese Zukunftspläne zerstört.
Nach seinem Tod begann die Polizei sofort mit ihren Verdächtigungen. Die richteten sich besonders gegen meinen Vater. Immer und immer wieder wurde ich gefragt: „Hatten die beiden Streit?“ Ich habe nur gedacht: Die würden doch nicht zusammenarbeiten, wenn sie Konflikte miteinander hätten, mein Vater und mein Bruder. Meist waren es Fragen nach Schulden, Drogen, oder der Mafia. Und immer wieder kam dieses „Hattet Ihr Streit? Ist das euer Ehrenkodex?“ Nach dem Motto: Bei den Türken sei es ja üblich, dass man sich gegenseitig umbringt. Ich konnte noch so oft betonen: „Bei uns ist das keineswegs üblich! Davon distanzieren wir uns. Meine Eltern, meine Geschwister und ich. Dafür sind wir doch viel zu multikulti.“
Irgendwann merkte ich dann, dass all diese Verdächtigungen der Polizei auf mich abfärbten. Ich fing selbst an, herumzuspinnen. Heimlich grübelte ich: „Bruder, was hast Du bloß angestellt, dass dir das widerfahren ist?“ Selbst meinen Ex-Mann fragte ich: „Waren da irgendwelche Leute hinter Dir her und haben meinen Bruder für dich gehalten?“ Im Nachhinein war das für mich das Schlimmste – dass ich all die falschen Verdächtigungen selbst übernommen habe.
Auf unsere eigenen Hinweise ist die Polizei nie eingegangen. Ich habe den Beamten mehrfach erklärt, dass kurz vor Süleymans Tod zwei Männer mit Anzügen und Glatzen, die wie Zivilpolizisten oder Bodyguards aussahen, immer wieder an unserem Laden vorbeigefahren sind. Mit einem dunklen Wagen. Ich habe meinen Bruder damals gefragt: „Habt Ihr irgendetwas angestellt? Sind das Zivilpolizisten? Warum fahren die immer wieder hier vorbei?“ Er hat nur geantwortet: „Was redest Du für einen Scheiß, Ayşen.“ Die Ermittler haben später lediglich beteuert, dass das keine Zivilpolizisten waren.
Statt meinen Hinweisen nachzugehen, hat man mir bei der Polizei Fotos von Menschen aus Altona gezeigt, die ich vom Sehen kannte. Immer waren es ausländische Leute. Zugleich haben sie mir sehr persönliche Fragen gestellt, die ich nie vergessen werde: Warum ich noch den Namen meines Ex-Mannes trüge? Da habe ich den Beamten nur angeguckt: „Was bitteschön hat das mit dem Tod meines Bruders zu tun? Haben Sie vielleicht tausend Euro für mich, damit ich die türkische Scheidung bezahlen kann?“ Dann hat man mich gefragt, warum mein Ex-Mann nichts von einem ehemaligen Konto von mir wüsste. Aber das hatte ich angelegt, lange bevor wir uns kannten. Überhaupt diese immer wiederkehrende Frage nach dem „ganz großen Geld“. „Was für großes Geld?“, habe ich die Beamten gefragt. Mit den 400 bis 500 Euro Umsatz, die der Laden am Tag abwarf, sind wir neue Ware und unser Essen einkaufen gegangen.
Zu den Verdächtigungen der Polizei kamen die aus dem Umfeld. Leute aus Altona, die vorher jeden Tag im Laden gesessen hatten, sagten plötzlich schlimme Sachen zu meinen Eltern: „Euer Sohn war ja sowieso ein Böser. Wer weiß, was er angestellt hat? Vielleicht hatte er was mit der Mafia oder Drogen zu tun.“ Andere Bekannte kamen einfach gar nicht mehr zu uns. Meine Eltern haben sich nicht dagegen gewehrt. Sie haben das über sich ergehen lassen.
Natürlich haben wir viel gegrübelt, wer die Täter sein könnten. Aber es kam dabei nie etwas heraus. Ich selbst habe mich durch die Fragen der Polizei beeinflussen lassen. Mein Vater war viel im türkischen Café, und da soll er angeblich Streit mit irgendwelchen Kurden gehabt haben, die eine Zeitschrift der PKK verkaufen wollten. Angeblich hat sich mit Bruder dann mit denen angelegt und sie gewarnt, sie sollten meinen Vater in Ruhe lassen. Ich weiß nicht, was wirklich in dem Café passiert ist. Alle Verdächtigungen stammten ja nur von der Polizei – und dann, im November 2011, war plötzlich sowieso alles anders.
Als vor drei Jahren klar wurde, wer hinter dem Mord an meinem Bruder steckte, war das für meine Eltern – so wie es auch die meisten Familien der Opfer sagen – eine Erleichterung. Ich hingegen habe eher das Gefühl, dass mein Leben seitdem deutlich eingeschränkter ist. Zu erfahren, dass Täter Rechtsradikale waren, hat mich völlig schockiert. Damit habe ich ganz und gar nicht gerechnet. Wir sind doch gut integriert hier! Dass Nazis im Hintergrund so aktiv sind, hatte ich bis 2011 nie wahrgenommen. Die Tatsache wühlt mich bis heute auf.
Ich kann einfach nicht nachvollziehen, dass diese Nazis geduldet werden und der Staat darüber hinwegschaut. Das macht mir Angst. Aber so wie es eine Überlebende des Kölner Nagelbombenanschlags formuliert hat, sage auch ich: „Die kriegen mich hier nicht weg.“
Natürlich wusste ich, dass es Rassismus gibt in Deutschland, aber ich habe mich nicht persönlich angegriffen gefühlt. Es hat mich nicht wütend gemacht. Jetzt ist jede Bemerkung gegen „die Ausländer“ für mich ein persönlicher Angriff. Da läuft in meinem Kopf immer gleich das NSU-Video mit den Fotos meines erschossenen Bruders ab. Dagegen bin ich machtlos.
Auch mein Verhältnis zu den Menschen auf der Straße hat sich seitdem verändert. Ich habe eine Abneigung gegenüber bestimmten Typen entwickelt, die allein von der Optik her den Angeklagten im NSU-Prozess ähnlich sehen. Am liebsten würde ich diese Menschen ausblenden, aber das geht nicht. Ich verbinde ihren Anblick, ohne es zu wollen, mit diesen Nazi-Leuten.
Vor 2011 hat das Geschehen nicht so geschmerzt, wie es zurzeit der Fall ist. Damals konnten wir uns Süleymans Tod nicht erklären. Jetzt wissen wir, wer hinter den Morden steckt. Und das löst große Angst uns Panik in uns aus. Wir wissen ja nicht, ob so etwas nicht wieder geschehen kann. Innerhalb der Familie rufen wir uns deshalb seitdem ständig an, um zu hören, ob alles in Ordnung ist. Das ist richtig schlimm. Bevor das NSU-Trio aufflog, konnte ich auf die Frage „Ist da was rausgekommen, bei der Sache mit deinem Bruder?“ immer „Nein“ antworten und einfach weitergehen. Heute werde ich über die Fragen nach meinem Bruder nur noch wütend und antworte: „Liest Du keine Zeitung?“
Auf jeden Fall konnte ich damals mit dem Geschehenen besser leben als mit dem, was heute ist. Heute müssen wir uns ständig wieder mit der Sache beschäftigen. Überall wird man als Person im Zusammenhang mit dem Thema NSU gesehen. Das schränkt einen sehr ein. Und ständig fragt man sich, warum das passieren konnte. Anders als bei einem Menschen, der vielleicht durch eine schwere Krankheit oder einen Unfall ums Leben gekommen ist, kann ich meinen Bruder einfach nicht loslassen. Dabei wäre es so wichtig, dass wir jetzt endlich Ruhe finden. Um das zu schaffen, ist es für mich entscheidend, dass wirklich alle, die an den Taten beteiligt waren, zur Rechenschaft gezogen werden: nicht nur die Angeklagten, die in München vor Gericht stehen. Manchmal kommt mir das, was sich da abspielt, wie ein Pro-Forma-Prozess vor, wie ein Theaterstück. Vielleicht liegt es daran, dass ich solche Gerichtsverfahren nicht kenne. Aber auf mich wirkt das so wenig real. Ich fürchte, am Ende wird auch nicht viel herauskommen. Jedenfalls nicht das, was man sich wünscht, nämlich dass wirklich alle verurteilt werden, die da mit drinhängen. Ich glaube inzwischen nicht mehr, dass es nur diejenigen waren, die da jetzt auf der Anklagebank sitzen.
Dennoch ist es wichtig, dass viele Leute diesen Prozess beobachten. Ich selbst wäre auch gern durchgehend vor Ort, wenn München nicht so weit weg wäre von Hamburg. Schade, dass die Taten nicht separat an den Orten verhandelt werden, wo sie geschehen sind.
Eine weitere bittere Erfahrung ist, dass wir uns von der Politik nicht ausreichend unterstützt fühlen. Bundeskanzlerin Merkel hat ihr Versprechen, die Hintergründe der Taten lückenlos aufzuklären, nicht gehalten. Lückenlose Aufklärung bedeutet für mich: Freigabe aller Akten. Doch alle Anträge dazu vonseiten der Anwälte wurden abgelehnt. Auch die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss in Hamburg wurde abgeschmettert. Dabei wüsste ich gern genau, was hier in Hamburg bei den Ermittlungen schiefgelaufen ist. Das hat für mich höchste Priorität.
Weil die Politik ihr Versprechen nach lückenloser Aufklärung nicht wirklich einhält, werde ich auch weiterhin Einladungen des Bundespräsidenten oder anderer hochrangiger Politiker ablehnen. Frau Merkel oder Herr Gauck können zwar nichts für das, was geschehen ist. Aber als Politiker könnten sie doch vieles lenken und in die Wege leiten. In puncto Aufklärung haben sie jedoch bisher nicht genug getan. Und solange das so ist, gibt es auch nichts, was wir miteinander zu besprechen hätten oder was sie für mich tun könnten. Ich will Aufklärung, nicht Beileid.
Ich möchte die Erinnerung an meinen Bruder wachhalten, denn so langsam tritt das Geschehen wieder in den Hintergrund. 2011 haben sich die Medien um die Berichterstattung gerissen. Jetzt merke ich, dass die Taten des NSU nur noch nebenbei erwähnt werden. Wenn überhaupt, dann wird über die Frisur und die Person von Beate Zschäpe berichtet. Ich möchte aber, dass sich die Medien mit der Sache auseinandersetzen – mit dem, was da wirklich geschehen ist.
Statt uns Opfer-Familien nach unseren Gefühlen zu befragen, sollten die Journalisten lieber mal die Deutschen fragen: Warum tut Ihr euch so schwer mit Menschen unterschiedlicher Nationalität oder Hautfarbe? Warum habt Ihr nicht die Toleranz, euch vielleicht auch selbst so zu verändern, dass Menschen sich hier integrieren können? Denn integrieren kann man sich nur, wenn die andere Seite dies auch zulässt. Und warum ist es so schwer, den Mythos vom „Ausländer“ hinter sich zu lassen und sich selbst die Erfahrung mit Einwanderern zuzutrauen? Warum lernen wir nicht, dass jeder Mensch eine Persönlichkeit für sich ist, egal welche Nationalität er oder sie hat?
All diese Fragen wühlen mich auf. Vor 2011, vor der Aufdeckung des NSU, habe ich mir wenig Gedanken über das Zusammenleben in Deutschland gemacht. Seitdem bin ich sensibler geworden. Das macht das Leben nicht einfacher. Einerseits wünsche ich mir, dass die Erinnerung an meinen Bruder und die anderen Opfer nicht verblasst. Aber gleichzeitig möchte ich, dass die Medien akzeptieren, dass wir als Familienangehörige nicht ständig mit dem Geschehenen konfrontiert werden wollen. Wir verfolgen sehr genau, was in dem Prozess in München und in der Politik passiert, aber wir tun das auf unsere Weise. Wir sind nicht desinteressiert. Wir wollen nur einfach unser Leben nicht immer wieder davon bestimmen lassen. Man sollte deshalb unseren Wunsch respektieren, nicht öffentlich zu sprechen. Aber insbesondere unsere Eltern werden ständig zu irgendetwas genötigt. Ich möchte auch nicht, dass man uns mit Veranstaltungen oder Anrufen ständig an das Geschehene erinnert. Man soll uns einfach in Ruhe lassen. Wenn wir irgendetwas brauchen oder wollen, organisieren wir das schon selbst.
Alle in unserer Familie sind durch die Tat, die Folgen und die Berichterstattung gesundheitlich kaputtgegangen. Für mich selbst wünsche ich mir nur, dass ich wieder am Leben teilnehmen kann. Dass ich im Alltag funktionieren kann. Gesund funktionieren kann. Vor allem aber wünsche ich mir, dass ich wieder Freude am Leben finde. Doch zurzeit haben wir keinen Alltag mehr. Es geht emotional immer rauf und runter. Wir sind sensibler, erschöpfter und durchgehend verletzlicher geworden – vor allem meine Eltern. Als im Juni 2014 in Hamburg bei einer Gedenkfeier die Straße „Kohlentwiete“ in „Taşköprüstraße“ umbenannt wurde, war das nervlich einfach zu viel für sie. Für mich hat diese Umbenennung keine große Bedeutung. Was sind schon 300 Meter in irgendeiner Seitenstraße für das Gedenken an einen Menschen? Ich hätte mir gewünscht, dass die gesamte Schützenstraße, dort wo der Mord passierte, nach meinem Bruder benannt worden wäre. Für mich ist es deshalb wichtig, dass jetzt Süleymans Stern dort platziert ist – der Stern, den ich ihm zu Lebzeiten versprochen hatte.
aus: Barbara John (Hrsg.), Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet, HERDER, 2014
Bruder von Mehmet Turgut
Sie haben meinen Eltern den Sohn und die Heimat geraubt
Memo, für mich wird er immer Memo bleiben. Memo – so nannten wir meinen großen Bruder Mehmet. Ich war 12 Jahre alt, als er in Deutschland ermordet wurde. Wenn ich mich an ihn erinnere, sehe ich immer wieder dieselben Szenen vor mir. Eine ist: Memo und ich gehen in den Wald, um Feuerholz zu sammeln. Es ist Sommer. Es ist sehr heiß, das Sammeln ist anstrengend. Mehmet ist erschöpft, aber er lässt nicht zu, dass ich ihm helfe, weil ich ja noch so klein bin. Dann merken wir, dass wir vergessen haben, Wasser mitzunehmen. Das ist meine Schuld und mein großer Bruder ist ziemlich sauer auf mich.
Zum Glück ist in der Nähe ein kleiner Bachlauf. Nur: Wir haben keinen Behälter dabei, um Wasser zu holen. Da zieht Mehmet seinen Schuh aus und sagt: „Los, wasch ihn gut aus und bring darin das Wasser hierher.“ Und dann haben wir zusammen aus dem Schuh getrunken und wir waren wieder versöhnt.
Ich bin das jüngste von fünf Geschwistern, Mehmet war 14 Jahre älter als ich. Wir hatten daher nur wenig gemeinsame Zeit miteinander, denn Memo war häufig in Deutschland. Seine Stimme hörte ich oft nur durchs Telefon. Deutschland war wie ein Sog für ihn. Er hatte keine Arbeitserlaubnis dort, keine Aufenthaltserlaubnis. Er wurde abgeschoben und kehrte doch immer wieder dorthin zurück. Ich glaube, dass es ihm nicht sehr gut ging dort. Und doch bedeutete Deutschland für ihn Hoffnung.
Mein Vater hat immer gedrängt: „Geh nicht mehr nach Deutschland. Was willst Du da? Bleib hier. Heirate hier. Es gab da auch ein Mädchen in unserem Dorf, das er liebte. Aber Mehmet erwiderte: „Vater, wovon sollen wir hier leben? Du versorgst uns, aber wir können nicht immer von deiner Arbeit leben. Ich möchte selbstständig sein. Ich will nach Deutschland fahren.“ Am Ende hat unser Vater aufgegeben. Er hat ihm die Erlaubnis erteilt, er hat sogar Schulden gemacht, damit er einen Pass bekam und reisen konnte.
Auch als Mehmet wenige Monate später in Deutschland erschossen wurde, hat mein Vater gesagt: „Wir hätten ihn nicht aufhalten können, egal was wir gemacht hätten. Es war sein Schicksal. Man hätte einen Berg auftürmen können – er wäre darübergestiegen.“
Im Februar 2004 war klar, dass er aus dem fernen Land hinter dem Berg nicht mehr lebend zurückkommen würde. Ich erinnere mich noch genau an den Tag. Ich ging damals in die fünfte Klasse in Elazig, der nächstgelegenen Kleinstadt, denn in unserem Dorf gibt es keine Mittelschule. In der Mittagspause kam meine Cousine plötzlich schreiend auf mich zu gerannt. „Mustafa, lauf schnell nach Hause. Deine Großmutter ist tot!“ Ich rannte und rannte, und als ich in unser Dorf einbog, da war die Straße vor unserem Haus voller Menschen. Ich musste mich erst durch die Menge drängen, aber in der Tür habe ich schon gesehen: Die Großmutter lebt ja! Ich habe gerufen: „Großmutter, bist Du tot?“ Da hat dann ein guter Bekannter meiner Familie versucht, mich wegzuführen. „Du bist doch gerade erst von der Schule gekommen, Du musst hungrig sein. Du musst etwas essen.“ Ich habe nicht verstanden, warum die Leute so unglaublich weinten, obwohl die Großmutter doch lebte. Dann hat meine Schwägerin geschluchzt: „Memo. Memo ist tot.“ Da habe ich geahnt, dass etwas Schreckliches passiert ist.
Als ich schließlich doch ins Haus kam, sah ich meine Mutter auf dem Boden liegen. Sie war ohnmächtig geworden und die Leute versuchten, sie mit Kölnisch Wasser zu wecken. Mein Vater stand da wie versteinert. Er weinte nicht. Er hat nur gesagt: „Dein Bruder ist tot.“ Erst Jahre später habe ich verstanden, warum er nicht weinen konnte.
Als Mehmets Leichnam aus Deutschland nach Hause kam, wollte mein Vater seinen Sohn unbedingt noch einmal sehen. Der Sarg war geöffnet, mein Vater küsste Mehmet auf die Stirn und sagte nur: „Nun könnt Ihr ihn begraben.“ Meine Mutter musste man mit Gewalt von dem Anblick abhalten. Aber ich sah meinen toten Bruder: Er war weiß wie die Decke, ein wenig unwirklich, aber auch sehr schön. Das ist das letzte Bild, das ich von meinem Bruder in Erinnerung habe.
Meine Mutter ist dann jeden Tag zu dem Hügel gegangen, wo Mehmets Grab liegt. Hin und her. Tag für Tag. Monat für Monat. Mein Vater hingegen war sehr still und geduldig. Er redete nicht viel. Gott hat ihm die Fähigkeit gegeben, in dieser Situation so ruhig zu bleiben. Wie wichtig das war, habe ich erst später wirklich zu schätzen gelernt.
Denn schon bald fingen die quälenden Fragen und Gerüchte an: Wer hat Mehmet erschossen? Und warum?
Haydar, der Besitzer des Rostocker Imbiss, in dem Mehmet getötet wurde, war damals mit dem Leichnam aus Deutschland mitgereist. Er stammt auch aus unserem Dorf und hat versucht zu erklären. Aber es gab nichts zu erklären. Er war verzweifelt. Er hat gesagt: „Ihr könnt mich erschießen, aber ich weiß nicht, wer es getan hat und warum es passiert ist.“ Er hat meinen Bruder am Boden liegend gefunden, als er in seinen Imbiss zurückkam. Da lebte Mehmet noch und er hat ihn gefragt: „Mehmet, was ist passiert, wer war das?“ Aber Mehmet konnte nicht mehr antworten.
Was dann folgte, war ein Albtraum für unsere Familie. Alle suchten nach Erklärungen und die Zeit der Gerüchte im Dorf begann. Einige sagten zu meinem Vater: „Dein Sohn hat in Deutschland bestimmt Drogen verkauft.“ Andere meinten: „Das hatte etwas mit Frauen zu tun.“ Wieder andere behaupteten: „Das war Haydars Schuld“ – die Schuld des Imbissbesitzers. Er habe meinen Bruder umbringen lassen. Einige phantasierten, Haydar habe Mehmet eigenhändig getötet und das erst drei Tage später offengelegt. Wieder andere waren sich sicher: „Es war eine Verwechselung. Die Mörder wollten eigentlich Haydar selbst umbringen und nicht Mehmet.“ Jeder im Dorf hatte eine Erklärung. Die Gerüchte waren so schlimm, dass einige sogar sagten: „Ihr habt euren Sohn selbst umgebracht.“ Das war ungeheuer verletzend.
Irgendwann kam dann auch die deutsche Polizei. Die Beamten kamen nicht in unser Dorf. Sie haben nicht meine Eltern befragt. Sie fragten im Nachbardorf herum: Hatten die Turguts Feinde? Gab es einen Anhaltspunkt für Blutrache? Die deutsche Polizei hat auch meinen Bruder Yunus mehrmals nach Ankara mitgenommen zum Verhör. Und immer hat man ihm dort erklärt: Das war bestimmt einer von euch. Niemand hat uns geglaubt, dass das völliger Unsinn war. Das war das Schlimmste. Die deutsche Polizei hat unsere ganze Familie schlecht gemacht, indem sie in der Gegend nach uns fragte. Sie hat die Gerüchte zusätzlich aufgeheizt. Die Verdächtigungen nahmen ein solches Ausmaß an, dass es die Familie fast zerstört hätte.
Unsere Familie war nicht reich. Wir sind Landwirte. Aber mein Vater wurde immer – egal, wo er hingegangen ist – respektiert. Die Leute sind vor ihm aufgestanden, wenn er kam – nicht des Geldes wegen, sondern weil sie ihn schätzten. Sie respektierten ihn als Menschen. Und dann hat der Mord an Mehmet alles verändert. Vorher sind meine Eltern mit Stolz und Würde durch die Straßen gegangen. Nach dem Tod ihres Sohnes gingen sie nur noch mit gesenktem Kopf.
Mein Vater hat alle Gerüchte natürlich mitbekommen. Aber er hat dafür nie jemanden zur Rede gestellt. Er hat einfach nur gewartet. Gewartet und gebetet. Aber irgendwann hat auch er es nicht mehr ausgehalten. Er musste nicht nur den Tod des Sohnes verkraften, sondern auch die Anfeindungen von Nachbarn und Verwandten. Denn die Spekulationen wollten einfach nicht aufhören.
Irgendwann hat mein Vater deshalb entschieden, aus seinem Heimatdorf wegzuziehen. Er hat ein Grundstück in Elazig gekauft und dort ein Haus gebaut. Er hat es so gebaut, dass er keine Nachbarn mehr hatte. Er wollte irgendwohin, wo er niemanden sehen muss, nichts mehr hören muss und wo er nicht gestört wird. Mit dem Umzug wollte er auch meine Mutter entlasten. Denn sie ist weiterhin jeden Tag zu Mehmets Grab gegangen. Tagaus, tagein. Es war schwer mit anzusehen, wie sie sich quälte.
Aber auch mit dem Umzug kehrte keine Ruhe ein. Ständig kamen Anrufe aus Deutschland. Von meinem Cousin, der in Deutschland lebt, von dem Imbissbesitzer Haydar. Der Cousin sagte: „Haydar ist schuld. Wir müssen ihm das heimzahlen.“ Der eine machte dem anderen Vorwürfe. All diese Gerüchte und Anschuldigungen haben die Familienmitglieder gegeneinander aufgebracht.
Natürlich haben wir damals auch überlegt, dass es Rechtsradikale gewesen sein könnten, die Mehmet ermordet haben. Wir hatten doch keine Feinde in der Türkei und Mehmet hatte sich in Deutschland nichts zuschulden kommen lassen. Mein Vater hatte zuvor ja auch einige Zeit in Deutschland gearbeitet. Er kannte Ausländerfeindlichkeit. Er war sich sicher: Das waren bestimmt die Kahlköpfe. Dann hat wieder mein Cousin aus Deutschland angerufen und gesagt: „Die Polizei sagt nein. Es gibt keine Hinweise, dass es Rechtsradikale waren.“ Wir hatten keine andere Erklärung, doch keiner hat uns geglaubt. Das war das Schlimmste. Nur mein Vater war sicher: „Es waren die Neonazis und eines Tages kommt die Wahrheit heraus.“
Ich habe das alles nur schwer ausgehalten. Selbst als Kind blieb ich nicht von der Gerüchteküche verschont. In der Schule, überall. Nach jedem Anruf aus Deutschland schwirrten neue Gerüchte in meinem Kopf. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. In der Schule fielen meine Leistungen ab. Meine Gedanken waren nicht mehr frei. Mehmets Tod war jeden Tag Thema, ausnahmslos. Jahrelang. Und gleichzeitig war es für mich schwer zu ertragen zu sehen, wie meine Eltern litten. Es war, als sei ihnen mit dem Tod Mehmets auch die Seele genommen worden. Meine Mutter wurde von Tag zu Tag kleiner und dünner. Es war, als würde sie verschwinden. Mein Vater versteinerte immer mehr. Er war ein gebrochener Mann. Memos Mörder hatten meinen Eltern nicht nur den Sonn geraubt, sie hatten ihnen auch die Heimat, die Freunde und Verwandten genommen.
Dann kam der November 2011. Da war ich schon von zu Hause weggezogen und arbeitete in Antalya in einem Restaurant. Ich erinnere mich noch genau, wie das Telefon klingelte. Mein Cousin aus Deutschland rief an. „Wie geht’s dir?“ Und dann hat er erzählt: „Wir wissen, wer Mehmet umgebracht hat. Es waren Neonazis.“ Anders als viele Menschen in Deutschland und in der Türkei habe ich das nicht so sehr als Schock empfunden. Nach all den Jahren war es eher eine große Erleichterung. Jetzt ist die Zeit der Anschuldigungen und Gerüchte endlich vorbei. Endlich! Auch von meinen Eltern ist damit eine Last abgefallen. Nach all den Verdächtigungen hatten sie ja schon selbst das Gefühl, schuldig zu sein. Jetzt ist zumindest die Anspannung weg. Sie haben Gewissheit. Es geht ihnen besser.
Die Tatsache, dass mein Bruder allein deshalb sterben musste, weil er Türke war, beschäftigt meine Eltern nicht so sehr. Mein Vater hat, als er in Deutschland gearbeitet hat, ja das Land und die Menschen dort kennengelernt. Er hat auch jetzt, nach dem klar ist, dass deutsche Neonazis seinen Sohn gezielt gemordet haben, keinen Hass auf die Deutschen. Mein Vater sagt: Es war Mehmets Schicksal. Er akzeptiert den Tod. Was ihm am schwersten fällt, ist, dass sein Sohn nicht in der Türkei, sondern in der Fremde sterben musste. Das ist sehr schmerzlich für ihn. Meiner Mutter geht es anders. Sie ist Analphabetin. Sie ist nie weit aus ihrem Dorf herausgekommen. Sie hat immer noch eine Wut auf die Deutschen und so geht es vor allem den Frauen im Dorf.
2004, als Mehmet ermordet wurde, dachte auch ich: Die Deutschen sind Mörder. In meiner Vorstellung waren sie alle Ungeheuer. Aber als ich dann aus meinem Dorf fort ging nach Antalya und dort als Kellner arbeitete, habe ich ein ganz anderes Bild von den Deutschen bekommen. Die deutschen Urlauber, die ich dort kennenlernte, waren nett und höflich. Wenn ich bei anderen Gästen das Essen abräumte, war der Tisch meist übersät mit Essensresten und Abfällen. Die deutschen Gäste hingegen putzten sogar die Krümel weg. Sie waren freundlich, respektvoll – und sie konnten sogar lachen!
Manchmal denke ich darüber nach, ob ich mein Bild nun wieder ändern müsste. Wenn in Deutschland Neonazis ungehindert Ausländer ermorden können, was ist das dann für ein Land? Aber wenn ich in mich hineinhöre, spüre ich keinen Hass. Natürlich waren die Nazis, die meinen Bruder umgebracht haben, Deutsche. Aber ein Land ist wie eine Hand. Jeder Finger ist anders. Nicht alle sind gleich. Und so wie es böse Menschen in Deutschland gibt, gibt es auch böse Menschen in der Türkei. Ich kann nicht einfach sagen, weil es hier Nazis gibt, sind alle Leute hier schlecht.
Seit Anfang 2013 lebe ich nun vorübergehend selbst in Deutschland, damit ich als Nebenkläger den NSU-Prozess gegen Mehmets mutmaßliche Mörder und ihre Komplizen beobachten kann. Wenn ich Beate Zschäpe und die anderen Angeklagten vor mir auf der Anklagebank sehe, kann ich die Gefühle nicht unterdrücken. Da sind Hass und Wut. Diese Leute haben unsere Seelen zerstört und nun sitzen sie einfach da – grinsen, schweigen. Nein. Es geht mir nicht gut, wenn ich sie vor mir sehe. Aber mit der Hoffnung, dass das Gericht zu einem guten Ergebnis kommt, kann ich den Anblick verkraften.
Ich finde den Verlauf des Prozesses bis jetzt nicht zufriedenstellend, aber ich habe Vertrauen in das deutsche Justizsystem. Wenn es zu einem guten Urteil kommt, kann das sicher dazu beitragen, dass meine Eltern und ich unseren Frieden finden. Wir wollen die ganze Sache aufgeklärt sehen und wir wollen, dass die Täter bestraft werden. Was eine gerechte Strafe wäre? Ich weiß es nicht. Ich mag mir nicht vorstellen, dass Beate Zschäpe am Ende nicht als Mörderin verurteilt würde. Das könnte ich nicht verstehen, das könnte ich auch meinen Eltern überhaupt nicht erklären. Das könnten sie nie akzeptieren.
Ich lebe während des Prozesses in Lübeck bei meinem Bruder. Die Stadt gefällt mir sehr gut. Es gibt einen sehr schönen See mit einem Fischimbiss. Den mag ich. Und die Menschen hier sind sehr nett. Ich habe nie erlebt, dass mich jemand böse angeschaut hat. Nur manchmal denke ich daran: Dies ist das Land, in dem mein Bruder ermordet wurde. Dann wird mir schlecht. Besonders als ich mal in Rostock war, wo Mehmet getötet wurde. Ich habe den Imbiss gesehen, wo man ihn erschossen hat. Die Gefühle bei dem Anblick mag ich bis heute nicht beschreiben.
Aber es ist nicht so, dass ich durch die Straßen gehe und denke: Der oder der könnte so denken wie die Mörder meines Bruders. Wenn ich in die Gesichter der Leute schaue, habe ich auch keine Angst. Selbst wenn ich mich dazu zwingen müsste, ich kann bisher in den Menschen, die mir begegnet sind, nichts Schlechtes entdecken. Ich habe nach wie vor ein sehr positives Bild von den Deutschen. Ich denke auch nicht jeden Tag daran, was hier Schreckliches passiert ist. Nein. Ich fühle mich in Deutschland sogar wohler und freier als in der Türkei. Man spürt, dass hier mehr Demokratie herrscht. Man kann sich hier ungezwungener bewegen, gerade als junger Mensch. Das gefällt mir. Diese Freiheit genieße ich. Ich habe angefangen Deutsch zu lernen. Ich möchte es so gut lernen, dass ich wie ein Deutscher spreche.
Für meinen Bruder Mehmet war Deutschland das Land der Hoffnung. Heute kann ich ihn verstehen. Er ist immer wieder nach Deutschland gegangen, um hier zu arbeiten. Er wollte Geld sparen, um eine Familie zu gründen und meinen Eltern zu helfen. Es war kein leichter Weg, er hat ihn mit dem Leben bezahlt. Jetzt würde ich gerne den Traum, den Mehmet hatte, erfüllen und meine Eltern unterstützen. Das ist wie ein Vermächtnis. Nach vielen Anstrengungen habe ich nun endlich auch für die Zeit meines Aufenthalts hier in Deutschland eine Arbeitserlaubnis bekommen und bin nicht mehr auf Unterstützung von anderen angewiesen. Ich arbeite in einem Imbiss – ganz so wie Memo.
Als bekannt wurde, dass es Neonazis waren, die meinen Bruder ermordet haben, war man in Deutschland sehr betroffen. Politiker, Journalisten und viele Menschen waren erschüttert. Diese Anteilnahme hat sehr gutgetan. Das mildert die Schmerzen nicht, aber es tröstet. Die öffentliche Reaktion in Deutschland war vor allem für meine Eltern sehr wichtig. Ich war mit anderen Angehörigen der Opfer sogar im Kanzleramt und habe dort Bundeskanzlerin Merkel getroffen. Dort eingeladen zu sein, war für mich sehr beeindruckend. Und was sie gesagt hat, waren auch zu 95 Prozent die richtigen Worte. Aber bis heute fehlt, was sie schon vorher versprochen hatte:
Dass die Morde und ihr Umfeld lückenlos aufgeklärt werden. Das ist bisher nicht geschehen. Trotz der öffentlichen Anteilnahme fühle ich mich von der deutschen Politik nicht ausreichend unterstützt. Bis auf wenige Ausnahmen hat sich bisher niemand wirklich Zeit genommen, mit uns zu reden.
Als 2011 klar wurde, wer meinen Bruder ermordet hat, hat das eine gewisse Erleichterung in unser Leben gebracht. Von den Verwandten, die sich an der Gerüchteküche beteiligt haben, hatte ich trotzdem die Nase voll. Ich bin deshalb weggegangen aus unserer Heimat. Ich wollte dorthin, wo mich niemand kennt. Ich fühle mich unter Freunden wohler. Das Verhältnis zu unseren Verwandten ist zwar etwas besser geworden, seit klar ist, wer meinen Bruder umgebracht hat, aber es ist wie mit einem Glas. Wenn es auf den Boden gefallen und zersplittert ist, kann man die Scherben zwar kleben, aber es wird trotzdem niemals so sein wie früher.
Ich bin jetzt 22 Jahre alt. Aber ich habe so viel erlebt, so viele Schmerzen erlitten, dass ich mich manchmal sehr alt fühle. Als Kind wollte ich Pilot werden oder Staatsanwalt. Doch nach allem, was nach Mehmets Tod passiert ist, sind diese Wünsche verblasst. Erst ganz allmählich kann ich jetzt wieder an die Zukunft denken. Ich würde gerne in Deutschland studieren. Ich kann mir sogar vorstellen, Staatsanwalt zu werden. Aber wenn, dann möchte ich unbedingt Staatsanwalt in Deutschland werden. Mir gefällt es, wie der Staatsanwalt und der Richter im Münchner Prozess mit den Menschen umgehen. Manchmal treffe ich den Richter zufällig in der Gerichtspause. Er grüßt mich freundlich, hält mir die Tür auf oder fragt mich: „Warum sind Sie denn so dünn?“ So etwas kann man sich in der Türkei gar nicht vorstellen.
Uns ist etwas Schreckliches geschehen. Der Schmerz darüber ist nicht vorbei. Jeden Abend, wenn ich den Kopf auf mein Kissen lege, bete ich für Memo. Aber wenn ich heute in die Zukunft schaue, glaube ich, dass ich meine Wünsche erfüllen kann, vielleicht in zwei oder drei Jahren. Ja, ich sehe eine sonnige Zukunft vor mir.
aus: Barbara John (Hrsg.), Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet, HERDER, 2014
Sohn von İsmail Yaşar
Ich fühle mich so heimatlos
Ich hätte den Mörder sehen können. Vom Hof meiner Schule aus. Vielleicht hätte ich sogar die Schüsse gehört, die meinen Vater getötet haben. Der Imbiss meines Vaters stand ja direkt gegenüber meiner Schule auf einem Parkplatz. Fast in jeder Pause bin ich über die Straße zu ihm ihn, hab mit ihm geredet, mir schnell was zu essen geholt. Nur ausgerechnet an dem Tag, als es passierte, war ich nicht in der Schule. Ich war damals beim Praktikum in einem Betrieb.
Dort hatte ich gerade eine Frühstückspause und kam vom Supermarkt gegenüber zurück. Da sah ich schon ein Polizeiauto im Hof. In der Werkstatt standen zwei Beamte: „Sind Sie Kerem Yaşar?“ „Ja“. Und dann haben sie mir direkt ins Gesicht gesagt, ohne jede Vorwarnung: „Ihr Vater ist tot.“ Der Satz klang in meinen Ohren. „Ihr Vater ist tot.“ Ich hatte keine Ahnung, was passiert war. Die Beamten haben mich dann zur Polizeiwache gebracht. Dort saß schon meine Mutter. Wir hockten uns hin und haben geweint. Ohne Ende.
Meine Eltern lebten damals schon getrennt. Ich wohnte bei meiner Mutter, aber mein Vater und ich haben uns fast täglich gesehen. Ich habe auch oft bei ihm übernachtet. Wir hatten ein sehr enges Verhältnis. Er war eher ein ruhiger Typ, so wie ich. Er war sehr stolz auf mich. Es gab so viele Dinge, die ich an ihm mochte – vor allem sein Lachen. Aber das wichtigste war, dass er einfach da war. Bei all dem, was in den vergangenen Jahren passiert ist, war das dann auch das Allerschlimmste: ohne Vater aufwachsen zu müssen – und das in einem Alter, wo man ihm am meisten braucht. Mein Vater hätte mir den Weg ins Leben zeigen können.
Mein Vater war ein sehr freundlicher, beliebter Mann. Er hat keinen Alkohol getrunken, nie. Er war ein „sauberer“ Mann. Im Sommer zuvor waren wir noch gemeinsam in der Türkei, mein Vater, meine Mutter und ich. Wir hatten eine enge Verbindung zu seiner Familie dort. Dann war mit einem Schlag alles ganz anders.
Die Familie meines Vaters verdächtigte nun meine Mutter. Sie sei schuld am Tod meines Vaters. Es gab ja keine Spur von anderen Tätern. Die Verwandten in der Türkei behaupteten deshalb, meine Mutter habe sich an meinem Vater rächen wollen wegen der Trennung und weil sie sein Erbe wollte. Die Beschuldigungen waren so schlimm, dass meine Mutter sogar Angst hatte, mit uns Kindern zur Beerdigung zu fliegen. Wir haben den Leichnam meines Vaters deshalb nur bis Istanbul begleitet. In sein Heimatdorf, wo er begraben wurde, hunderte Kilometer weiter nahe der syrischen Grenze, haben wir uns nicht gewagt. Bis heute bin ich deshalb noch kein Mal am Grab meines Vaters gewesen.
Vor seinem Tod war noch alles in Ordnung. Danach ist die Familie völlig auseinandergebrochen. Jahrelang gab es keinerlei Kontakt. Erst als 2011 die wahren Mörder meines Vaters aufgespürt wurden, ließen die Beschuldigungen gegen meine Mutter nach. Doch all die hässlichen Dinge, die gesagt wurden, vergisst man nicht. Ich denke deshalb: Die Mörder haben mir nicht nur meinen Vater genommen, sondern auch die eine Hälfte meiner Familie.
Über meinen Vater zu reden, fällt mir heute noch schwer. Ich vermisse ihn so sehr. Wenn ich an ihn denke, kommen mir auch jetzt die Tränen. Deshalb mag ich eigentlich gar nicht erzählen, was in der Zeit nach seinem Tod passiert ist. Ich habe mich damals sehr zurückgezogen – wollte niemanden sehen, mit niemandem darüber reden, auch mit Freunden nicht. Bis heute vermeide ich das Gespräch darüber. Der Schmerz ist so schon groß genug. Wenn ich jetzt doch erzähle, dann nur, weil ich will, dass die Leute nicht vergessen, was man uns angetan hat.
Nach dem Tod meines Vaters fingen sofort die Vernehmungen an. Die Polizei fragte mich, wer in dem Dönerladen ein und aus gegangen ist. Sie nahmen Fingerabdrücke und DNA-Proben von mir, als ob ich, der 15-jährige Sohn, der Täter wäre. Sie haben auch meine Mutter verdächtigt, etwas mit dem Mord zu tun zu haben. Sie haben ihr Behauptungen aufgetischt, die einfach nicht gestimmt haben – bloß damit sie irgendetwas erzählt. Richtige Fangfragen waren das. Irgendwann behaupteten sie, mein Vater hätte vom Imbiss aus Drogen an Jugendliche verkauft. Der Stand wurde versiegelt, monatelang. Meine Mutter musste trotzdem weiter Miete zahlen und hatte am Ende einen Berg Schulden. Selbst die Dönerspieße hat die Polizei auf Drogen untersucht. Nirgends haben sie irgendetwas gefunden. Aber diese Verdächtigungen sprachen sich natürlich in der Gegend herum. Ich habe gesagt: Das kann nicht sein. Mein Vater ist kein Dealer. So was würde er nie machen! Nur: Wenn alle Leute dir einreden, dass er in irgendwas Schlimmen gesteckt hat, kommst du irgendwann selbst ins Grübeln. Aber eigentlich habe ich nie geglaubt, dass er etwas Kriminelles gemacht haben könnte.
Zum Glück waren meine Freunde da. Sie haben in der schweren Zeit loyal zu mir gestanden. Sie kannten meinen Vater ja. Alle haben sie gesagt: Diese Gerüchte und Verdächtigungen, das kann nicht sein. Auch mein Klassenlehrer hat mich unterstützt. Deshalb bin ich weiter auf meine alte Schule gegangen, obwohl ich von da aus jeden Tag auf den Ort gucken konnte, wo es passiert ist. Trotz allem habe ich ein Jahr später meinen Realschulabschluss geschafft und dann auch meine Lehre als Karosseriebauer abgeschlossen.
Freilich hat man sich in der ganzen Zeit Gedanken gemacht. Wer könnte meinen Vater getötet haben? Man ist alle Personen durchgegangen, die bei ihm ein und aus gegangen sind. Aber auf den Gedanken, dass es Rechtsradikale gewesen sein könnten, bin ich nie gekommen. Klar wusste ich, dass es Nazis gibt, Skinheads, Glatzen, Leute, die was gegen Ausländer haben. Aber dass es so etwas Extremes gibt, hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich hatte doch deutsche und nicht-deutsche Freunde.
Ich kann mich noch an den Tag erinnern, als klar wurde, dass es diese Rechten waren. Ich war bei der Arbeit, als ein Kumpel mich anrief: „Kerem, die haben sie gefasst.“ Ich habe es nicht geglaubt. Auch nicht, als ich später die Bilder im Fernsehen sah. Ich dachte, das sei schon wieder eines von diesen Gerüchten. Nach all den Spekulationen glaubte man ja erst einmal gar nichts mehr. Erst nach zwei, drei Tagen war ich mir sicher.
Dann war es ein Gefühl von großer Erleichterung. Immer hatte die deutsche Polizei uns verdächtigt. Und nun stellte sich heraus: Es waren keine von uns. Es waren welche von ihrem eigenen Volk. Neben der Erleichterung kam dann aber auch ein Gefühl von Hass. Als ich die Bilder von den Tätern sah, hab ich mir überlegt, was ich mit denen machen würde, wenn ich sie in die Hände bekäme. Was ich da gedacht habe, will bestimmt keiner von mir hören. Das heißt nicht, dass ich jetzt schlecht über die Deutschen insgesamt denke. Von jeder Menschensorte gibt es gute und böse. Aber natürlich hat es mich schockiert, dass mein Vater allein deswegen umgebracht wurde, weil er türkische Wurzeln hatte. Zwei Wochen bevor er getötet wurde, hatte die Bild-Zeitung noch ein Interview mit ihm gemacht. Sie haben geschrieben, dass er guten Döner macht und dass auch die Leute vom Arbeitsamt immer zu ihm gehen. Vielleicht sind die Nazis dadurch auf ihn aufmerksam geworden.
Man wird empfindlicher. Mein Gefühl für meine Umwelt hat sich verändert, nachdem klar war, dass Rechtsradikale meinen Vater umgebracht haben, dass es Deutsche waren. Man geht zur Arbeit, man läuft durch die Straßen und guckt sich die Leute plötzlich genauer an. Ohne dass man es will, läuft da ein Film ab: Vielleicht ist der oder der auch einer von denen? Oder er denkt zumindest so? Man fragt sich auch: Wer bin ich eigentlich? Ich bin zwar hier geboren und aufgewachsen, aber ich bin türkisch erzogen worden. Ich habe deutsche Freunde, ich komme mit allen klar, ich habe den deutschen Pass. Aber wenn man mich fragt, was ich bin, sage ich heute eher: Ich bin Türke.
Bevor das mit meinem Vater passierte, habe ich mich eigentlich nie als Ausländer gefühlt. Ich fühlte mich hier wohl und sicher. Und dann merkst du plötzlich: Irgendetwas stimmt nicht. Dieses Misstrauen hat sich mittlerweile wieder etwas gelegt. Aber eines ist geblieben: Ich fühle mich irgendwie so heimatlos. Ich habe hier in Deutschland keine Heimat und drüben in der Türkei auch nicht. Wenn ich dort bin, bin ich Ausländer. Wenn ich hier bin auch. Ich bin hier geboren, ich habe hier Freunde und trotzdem habe ich keine wirkliche Heimat mehr. Man spürt, dass die Menschen einen hier nicht haben wollen als Ausländer – obwohl wir denen doch nichts getan haben.
Manchmal überlege ich deshalb, in die Türkei zu gehen. Aber auswandern wäre ein ungeheuer großer Schritt. Vielleicht wage ich den irgendwann. Gleichzeitig finde ich es schön hier. Ich lebe seit meiner Geburt in Nürnberg. Ich kenne mich hier aus. Es gibt so viele Dinge, die mich in Deutschland halten – die Kumpels, die Freundin, die Arbeit. Aber wie soll man sich heimisch fühlen in einem Land, in dem jahrelang nichts getan wird, um die Mörder des eigenen Vaters zu finden? Die zuständigen staatlichen Stellen haben erst jetzt auch nur zufällig rausbekommen, wer die Täter waren. Das ist ein Skandal. Da denkt man sich, die Polizisten haben sich gar keine Mühe gegeben, weil sie meinten: Das waren halt Ausländer. Auch in meinem Freundeskreis haben wir überlegt: Wären die Ermordeten Deutsche gewesen, das Ganze wäre viel schneller aufgeklärt worden – oder es wäre gar nicht mehr zu dem dritten oder vierten Mord gekommen. Das sind so Gedanken, die einem kommen.
Ich sehe die Polizei deshalb auch nicht als Hilfe an. Sie hat uns damals beschuldigt und ausgefragt und bis heute hat sich keiner von denen bei uns entschuldigt. Wie soll man da Vertrauen haben? Meine Einstellung ist daher: Man kommt auch ohne die klar. Ich habe bis heute auch nie die Polizei gerufen, wenn mal irgendwas war, eine Auseinandersetzung oder so etwas. Viele Polizisten sind selbst richtige Rechte. Ich habe erlebt, wie die mich an der Ampel angehalten haben, weil ich ein bisschen zu schnell gefahren bin. Die sind ausgestiegen und ein Beamter hat gleich die Waffe gezogen: „Hände aufs Lenkrad!“ Am helllichten Tag, mitten auf der Hauptstraße hat er mich nach Drogen gefilzt! Die Leute, die vorbeifahren und einen kennen, die denken dann wieder: Was hat der denn verbrochen, dass er so gefilzt wird? Das war wie damals nach dem Tod meines Vaters. Die Polizei hat mich bei der Kontrolle richtig schlecht behandelt und da denkt man natürlich: Das ist wegen meiner dunklen Haarfarbe. Mit anderen hätten sie das nicht gemacht.
Nein, ich habe kein Vertrauen mehr in die Polizei und auch nicht mehr in die Politik. Vielleicht liege ich falsch, aber nach meinem Gefühl steckt der Staat in der ganzen Sache auch tief mit drin. Man kann doch nicht elf Jahre lang mit einer Waffe rumlaufen, zehn Leute töten, Banken überfallen und nie erwischt werden! Wenn man das Auto vor der Tür parkt und jemand fährt drauf, ist innerhalb kurzer Zeit klar, wer das war. Und diese Rechten da erschießen Menschen, setzen sich hinterher aufs Fahrrad und können spurlos verschwinden? Das kann doch kein Zufall sein, dass das bei zehn Morden funktioniert hat.
Dass sich die Politiker jetzt bei uns dafür entschuldigt haben, sicher, das war gut. Die Entschuldigungen waren wohl auch ehrlich gemeint. Die haben vorher ja selbst nichts davon gewusst. Nur kamen all diese schönen Worte verdammt spät. Wir wurden verdächtigt und wie das Letzte behandelt. Das kann auch die ehrlichste Entschuldigung nicht wiedergutmachen. Was man erlebt hat, hat man erlebt.
Deshalb gehe ich auch nicht zu dem Prozess in München. Ich will den Leuten nicht ins Gesicht schauen. Ich weiß nicht, was aus meinem Mund kommen würde, wenn ich ihnen gegenüberstehen würde. Die Leute, die das gemacht haben, müssen richtig kranke Menschen sein – ohne Herz, ohne Seele, ohne Verstand. Einen anderen Menschen zu töten, muss doch sehr schwer sein. Ich glaube für die war das am Ende wie ein Spiel.
Das heißt nicht, dass der Prozess mir nichts bedeutet. Aber das deutsche Rechtssystem ist ja so: Die Zschäpe kommt nach ein paar Jahren wieder raus, läuft irgendwann über die Straße und kann mit einer neuen Identität ein ruhiges Leben führen. Das finde ich nicht in Ordnung. Sie sollte ihre gerechte Strafe bekommen. Nicht in dem Sinne, dass auch sie sterben muss. Aber sie sollte wenigstens bis ans Ende ihres Lebens im Gefängnis sitzen. Die Frau hat ja mit den beiden Typen zusammengelebt. Sie muss alles gewusst haben. Wenn sie nicht wegen Mordes verurteilt wird, hätte ich kein Vertrauen mehr in den deutschen Staat. Null Prozent!
Nachdem das passiert war, mit meinem Vater, hat sich keiner um uns gekümmert. Als sich das dann aufklärte, haben sich plötzlich alle für mich und meine Mutter und die anderen Familien interessiert. Jetzt zahlt der Staat 10.000 Euro für die Familien der Opfer. Gut, einerseits erleichtert das Geld das Leben ein bisschen. Aber dass man Menschenleben mit Geld aufwiegen will, das finde ich eigentlich eine Frechheit. Vielleicht denken die, dass wir unseren Mund halten, wenn wir Geld kriegen. Aber was ist das für ein Zeichen? 10.000 Euro für einen ermordeten Menschen – dabei ist ein Menschenleben doch unbezahlbar.
Trotz allem: Wenn man mich heute fragt, wie es mir geht, dann antworte ich: Gut. Ich bin jetzt 24. Ich habe meine Ausbildung als Karosseriebauer abgeschlossen. Jetzt mache ich meine zweite Ausbildung als KFZ-Lackierer. Im August 2015 werde ich fertig sein. Vielleicht mache ich noch meinen Meister. Ich will gut reinkommen in den Beruf, einen festen Vertrag bekommen. Und nach der Ausbildung möchte ich gerne heiraten. Eine Familie gründen, irgendwann Kinder haben, ganz normal leben halt.
2013 bin ich zum ersten Mal wieder mit der Familie meines Vaters zusammengetroffen. Meine Großmutter und mein Onkel sind zum Prozess nach München nach Deutschland gekommen und wir haben uns versöhnt. Sie zu sehen, nach allem was passiert ist, war schon ein komisches Gefühl. Aber nach ein bisschen Reden hat man sich doch wieder wohlgefühlt miteinander. Es war sehr schön, meine Großmutter wiederzusehen. Sie ist schon sehr alt und es war ihr großer Wunsch, noch einmal ihre Enkel zu treffen. Mein Onkel hat auch meine Mutter angerufen und sich bei ihr dafür entschuldigt, dass die Familie ihr Unrecht getan hat. Freilich, es war nicht schön, was da von Seiten der Familie behauptet wurde. Aber trotzdem ist und bleibt es ja Familie. Vergessen kann ich das Ganze nicht so einfach – aber ich habe ihnen verziehen.
Was geschehen ist, werde ich sicher ein Leben lang in mir tragen. Die ersten zwei, drei Jahre ohne meinen Vater waren ohne jeden Halt. Aber mittlerweile fühle ich wieder Boden unter den Füßen, vor allem seit die Taten aufgeklärt sind. Ich bin langsam wieder reingekommen ins Leben – und ich kann es endlich wieder genießen.
aus: Barbara John (Hrsg.), Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet, HERDER, 2014
Familie von Halit Yozgat
Im Namen Gottes/Allahs
Rede vom 6. April 2016
Ich beginne meine Worte in respektvoller Andacht an alle Menschen in der ganzen Welt, die aus terroristischen Motiven ermordet worden sind.
Sehr geehrte Freunde und Gäste,
herzlichen Dank dafür, dass Sie uns an diesem schmerzerfüllten Tag nicht alleine gelassen haben und hier erschienen sind.
Ich werde heute zu folgenden Themen Stellung nehmen:
1. Persönliche Worte
2. Die Hintergründe meines Lebenswunsches mit der Umbenennung der Holländischen Straße in Halit Straße –
3. Das Gerichtsverfahren am Oberlandesgericht München und der Verfassungsschützer der Regierung Andreas Temme mittendrin
Wie Sie wissen, wurde mein einziger Sohn Halit mit 21 Jahren von grausamen und bestialischen Menschen durch mehrere Kopfschüsse ermordet.
Jedes Jahr kommen wir daher am 6. April um 15:30 Uhr zusammen, um Halit zu gedenken. Wir sind Ihnen von Herzen dankbar, dass Sie keine Mühen gescheut haben und ebenfalls mit uns hier sind.
Diesen Teil meiner Rede widme ich jenen, die heute nicht hier erschienen sind:
Menschen mit Ausländerhass haben entschieden, am 6. April 2006 einen Türken in Kassel zu ermorden.
Im Ermessen unseres erhabenen Gottes hat das Schicksal meinen einzigen, 21-jährigen Sohn Halit auserkoren.
Wir hatten keinerlei offene Rechnungen und Bekanntschaften mit diesen brutalen Menschen. Sie haben einzig und allein meinen Sohn Halit ausgewählt, weil er ein Türke ist.
Wäre die Wahl nicht auf Halit getroffen, hätte man mich, Sie oder Ihre Kinder ermordet, denn in Kassel sollte ein Türke erschossen werden!
Deshalb haben alle in Kassel und Umgebung lebenden Türken – ich inbegriffen – eine Lebensschuld an Halit.
Diese Lebensschuld werden wir versuchen zu begleichen, indem wir jedes Jahr am 6. April um 15:30 Uhr hier am Halit Platz uns versammeln und an ihn gedenken, denn dieses SCHICKSAL hätte jeden von uns treffen können.
Daher betrifft es uns alle.
Die Hintergründe meines Lebenswunsches mit der Umbenennung der Holländischen in Halit Straße
Hitler hat wegen seinem Hass auf Juden unter dem Deckmantel einer reinen deutschen Rasse Millionen von Menschen töten lassen. Dieses wurde in der Geschichte von Deutschland zu einem schwarzen Schandfleck. Es wurde viel im Laufe der Zeit als Wiedergutmachung und für die Befreiung von diesem Schandfleck getan.
Im Grundgesetz heißt es sogar, dass niemand wegen seinem Geschlecht, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden darf.
Fakt ist allerdings, dass die Mordserie seit dem Jahr 2000 genau gegensätzliches aufzeigt. Seit 2000 wurden Menschen getötet, weil sie Ausländer sind, unter ihnen auch mein Sohn Halit, der während er seine Hausaufgaben machte, erbarmungslos durch Ausländerfeinde erschossen wurde.
Das Getane war und ist unzureichend.
Der Ausländerhass hat überlebt und wütet weiterhin unter uns.
Ich habe viel nachgedacht, wie ich die kommende Generation vor braunem Gedankengut und den Folgen daraus schützen kann. Es müsste etwas sein, was diese grausamen Morde niemals vergessen lässt und immer gegenwärtig bleibt, um immer ein wachsames Auge zu haben.
Deshalb haben wir eine Lebensaufgabe für uns definiert – die Umbenennung der Holländischen Straße in Halit Straße.
Zum einen ist Halit in der Holländischen Straße geboren, hat dort gelebt und wurde dort brutal ermordet.
Zum anderen ist die Holländische Straße eine stark befahrene und lang erstreckende Straße. Sie stellt dabei einen Lebensmittelpunkt für viele Menschen dar.
Mit einer Umbenennung in Halit Straße bin ich fest davon überzeugt, dass viele sich fragen werden, wie die Namensgebung stattgefunden hat. Somit werden diese grausamen Morde niemals in Vergessenheit geraten und das wachsame Auge weiterhin gestärkt.
Leider bin ich ebenfalls fest davon überzeugt, dass mit dem Halit Platz und der Haltestelle meine Beweggründe unzureichend erfüllt sind.
Ich rufe von hier alle autorisierten Personen in Berlin, Wiesbaden, Kassel und alle Bürger und Bürgerinnen in Kassel dazu auf, uns bei der Erfüllung unserer Lebensaufgabe zu unterstützen.
Schaffen wir gemeinsam ein nachhaltiges Instrument für ein wachsames Auge gegenüber unserer zukünftigen Generation mit der Umbenennung der Holländischen Straße in Halit Straße.
Mit Ihrem Beitrag zur Erfüllung unserer Lebensaufgabe, teilen Sie auch den Schmerz, den wir fortwährend fühlen und tragen dazu bei, dass dieser hoffentlich irgendwann auch weniger werden wird.
Nun möchte ich überleiten auf den Prozess am Oberlandesgericht in München und dem Verfassungsschützer Andreas Temme.
Ich habe großen Respekt vor dem Vorsitzenden Richter Manfred Götzl, dem Staatsschutz Senat und vor der deutschen Rechtsprechung.
Der damalige Verfassungsschützer Andreas Temme hat das Internet Café vor dem Tod von Halit mindestens 50 Mal aufgesucht.
Auch an diesem erschütternden Tag, zur gleichen Zeit, als Halit erschossen wurde, war er im Internet Café.
Was für ein Zufall.
Er, ein Regierungsbeamter, dessen damalige berufliche Haupttätigkeit die Kontaktpflege mit Neonazis und deren Führung war, befindet sich zum Mord, begangen von Ausländerfeinden, im Internet Café und will nichts bemerkt haben? Er selbst meldet sich nicht einmal als Zeuge und muss als solcher erst durch die Polizei 14 Tage später ausfindig gemacht werden.
Um dies zu prüfen, wurde eine Rekonstruktion des Tathergangs verfilmt. Uns und allen anderen Anwesenden wurde dieser Film in München bei Gericht gezeigt. Dieser Film und die Tathergänge wecken keinerlei Glaubhaftigkeit! Allein das logische Denken zeigt auf, dass die verfilmten Tathergänge nicht der Realität entsprechen können.
Das Internet Café ist in zwei Räume aufgeteilt. Im ersten Raum, welcher auch der Eingang ist, befinden sich drei Telefonkabinen und auch der Schreibtisch von Halit. Im zweiten Raum, dem Hinterraum sind die die Internet-PC-Tische aufgestellt. Beide Räume sind durch eine Tür miteinander verbunden.
Nun zu den Ungereimtheiten:
1. Kurz nachdem Halit erschossen wird, verlässt der Verfassungsschützer Andreas Temme den Hinterraum und begibt sich in den Eingangsbereich, um seine Rechnung zu bezahlen. Gleich zu seiner Linken liegt Halit tot hinter dem Tresen. In der Verfilmung ist zu sehen, dass Temme demonstrativ nach allen Seiten nach Halit Ausschau hält aber nur nicht zu seiner Linken.
Dort hätte er ihn so wie ich sofort gesehen.
2. Er verlässt den Eingangsbereich, geht nach draußen, um nach Halit zu schauen und kehrt wieder über den Eingangsbereich in den Hinterraum. Auch hier schaut er in der Verfilmung demonstrativ in alle Seiten nur diesmal nicht nach rechts.
Denn dort würde er Halit so wie ich sofort sehen.
3. Temme kehrt in den Eingangsbereich für die Bezahlung seiner genutzten Dienstleistung vom Hinterzimmer zurück.
Temme ist 1,94 m groß und steht vor dem 73 cm hohen Schreibtisch, auf dem Blutspritzer drauf sind. Dahinter liegt Halit langestreckt tot auf dem Boden, er ist zu 85% zu sehen. Lediglich seine Füße sind unter dem Tisch. Temme legt 50 Cent auf den Tresen und will dabei bei seiner Größe weder Halit hinter dem Schreibtisch gesehen haben noch beim Hinlegen des 50 Cent Stückes die Blutspritzer bemerkt haben.
Warum habe ich als Vater von Halit, sobald ich mich dem Tisch genähert habe, meinen Sohn liegen gesehen und Temme nicht, obwohl er Halit gesucht hat. Hat Temme beide Augen geschlossen, um ja Halit nicht zu sehen?
Die Rekonstruktion wurde so gedreht, wie es dem damaligen Verfassungsschützer Andreas Temme nutzte.
Dieser Film hat mit der Realität nichts zu tun.
Ich selbst habe vor einem Jahr am Oberlandesgericht München bei Herrn Götzl und dem Senat beantragt, dass sie selbst sich das Internet Café, in dem mein Sohn Halit ermordet wurde, vor Ort anschauen sollten.
Sie sollten sich die örtlichen Gegebenheiten ansehen und sehen, dass die Rekonstruktion mit der Realität nicht viel gemeinsam hat. Allerdings ist nun ein Jahr vergangen und es hat keine Vor-Ort Besichtigung stattgefunden.
Dies muss unbedingt nachgeholt werden.
Denn Temme lügt. Temme hat entweder meinen Sohn erschossen oder die Mörder gesehen.
Unsere letzten Worte richten wir an das Oberlandesgericht an den Vorsitzenden Herrn Götzl und den Senat. Wir möchten, dass sich der Senat vor Ort im Internet Café, in dem mein Sohn Halit ermordet wurde, von den örtlichen Gegebenheiten in meinem Beisein ein Bild macht. Denn dann werden auch Sie sehen, dass der damalige Verfassungsschützer lügt.
Sollte es keine Vor-Ort-Besichtigung geben und die Ungereimtheiten von dem damaligen Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz nicht aufgeklärt werden, weil der Senat Temme glaubt, ist für uns das gesprochene Urteil bei Beendigung des Prozesses vor Gericht nichtig.
Wir werden das Urteil nicht anerkennen.
Ich wiederhole, der Verfassungsschützer der Regierung hat meinen Sohn entweder getötet oder hat die Mörder gesehen.
Eine andere Alternative gibt es nicht.
Sehr geehrte Freunde und Gäste, vielen Dank, dass Sie alle hierher erschienen sind und uns Ihr Gehör geschenkt haben.
Halits Mutter hat türkisches Süßgebäck gebacken. Wir freuen uns, wenn Sie davon kosten.